Fallstricke der Religionskunde

10. Februar 2017 – Welche Behandlung von Religion in öffentlichen Schulen hilft dem Gemeinwesen? Wird Religiöses im Klassenzimmer hart gezähmt oder zahnlos oder oberflächlich vermittelt, droht es ausserhalb zu wuchern. Eine Diskussion in Zürich bot polare Perspektiven auf die Lehrplanreform und eine Kritik der in Zürich eingeführten obligatorischen Religionskunde.

Auf Einladung des Zürcher Instituts für interreligiösen Dialog diskutierten am 6. Februar Andreas Kyriacou, Präsident der Freidenker-Vereinigung der Schweiz, und der katholische Religionspädagoge Dr. Andreas Kessler, der an der PH Bern das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft lehrt. Die SRF-Redaktorin Judith Wipfler befragte sie unter dem schlagseitigen Titel «Wieviel Religion erträgt die Schule?».

Dialog vor Regeln

Den Konflikt in Therwil (Weigerung zweier Knaben, der Lehrerin die Hand zu geben) kommentierte Kessler mit dem Hinweis auf die Möglichkeiten, die Lehrer und Schulleitung vor Ort im Gespräch hätten. Er meinte, Schüler sollten darauf hingewiesen werden, dass ihr Verhalten sie zu Aussenseitern mache und ihnen den Weg in die Arbeitswelt verbaue. Die Schule brauche den Dialog und Flexibilität vor Ort, nicht starre rechtliche Regelungen. «Zum Teil nützt es der Sache weniger, wenn für Säkularität gekämpft wird.»

Kyriacou setzte einen anderen Akzent: Die Schule solle auf religiös begründetes Verhalten nicht stärker Rücksicht nehmen als auf eine «andere Verhaltensauffälligkeit». Der Freidenker forderte grundsätzlich, dass Lehrpersonen in staatlichen Schulen «neutral» auftreten und sich – wie Richter – der säkularen Ordnung verpflichtet fühlen. «Das Zurschaustellen der Religion soll ausserhalb des Schulhauses stattfinden.»

Wird die Religionskunde den Religionen gerecht? Andreas Kessler in Zürich.

Will der Staat mehr religiös motivierte Privatschulen?

Wipfler reagierte darauf mit der Frage, ob es eine Lösung sein könne, dass religiöse Gruppen ihre eigene Schule starten. Kessler hat eine Hare-Krishna-Schule besucht, wo morgens eine halbe Stunde gechantet wird. Für ihn ist klar, dass Religionen an der öffentlichen Schule behandelt werden sollen. Der Staat habe ein offensichtliches Interesse, Religionen zum Thema zu machen. Zugleich seien private Initiativen zu dulden.

Das britische Fach Religious Education habe dazu geführt, dass die Religionen gewissen Kriterien unterworfen und dabei sozusagen «neutralisiert» würden. Laut Kessler nützt es dem Staat, wenn Religiosität «nicht ausserhalb wuchert». Kyriacou mochte England nicht als Modell sehen. Durch Thatchers Politik seien viele faith schools entstanden, wo «wahnsinnig orthodox» unterrichtet werde.

Zürcher Religionskunde und der Lehrplan 21

Der Lehrplan 21 sieht erst für die Sekundarstufe ein Fach «Ethik Religionen Gemeinschaft» vor; in der Primarschule ist es ins Belieben des Lehrers gestellt, wie er Religion im Fachbereich «Natur Mensch Gesellschaft» thematisiert. In Zürich hingegen soll das (nach einer Unterschriftensammlung der Kirchen) eigens entwickelte Fach «Religion und Kultur» unter der Bezeichnung «Religionen, Kulturen, Ethik» in der Primarschule mit einer Lektion pro Woche und in der 7. und 8. Klasse mit zwei Lektionen unterrichtet werden. (Vernehmlassungbericht der Bildungsdirektion)

Andreas Kessler billigte dem Fach Pioniercharakter zu. (Die Didaktik geht von dem aus, was Kinder und Jugendliche in ihrer «Lebenswelt» an Festen, Inhalten usw. der Religionen wahrnehmen.) Allerdings werde dabei zu stark auf fünf Weltreligionen fokussiert – die Heilsversprechen anderer Lehren (z.B. Homöopathie) kämen nicht zur Sprache.

«Zahnloses Lehrmittel

Das fürs Fach geschaffene Zürcher Lehrmittel «blickpunkt» ist laut Kessler «echli langwiilig» und «zu zahnlos». Spannungen innerhalb der Religionsgemeinschaften würden nicht dargestellt. Im Sekundarschulband (der den fünf Religionen je gleich viele Seiten gibt) finde sich im Kapitel übers Christentum kein einziger christlicher Text. «Die Konfrontation mit dem Text findet nicht mehr statt.» Eben dies wäre wichtig, sagte Kessler – «sonst hat man keine Ahnung, was diese religiösen Menschen umtreibt! So stirbt für mich der Gegenstand Religion.» Die Bergpredigt sollte in der Oberstufe einmal ganz gelesen werden.

Säkulare Wertvorstellungen thematisieren: Andreas Kyriacou.

Verpasste Chancen?

Kyriacou stellte den Modellcharakter der Zürcher Religionskunde in Abrede. «Dieses Fach hat so viele Chancen verpasst.» Die Religionslosigkeit werde nicht angemessen thematisiert. Beim Lehrmittel hätten die Vertreter der Religionsgemeinschaften in der Kontaktgruppe darauf gedrungen, dass «Faktenhäppchen über ihre Religion» aufgenommen wurden. (Die Freidenker waren in der Kontaktgruppe vertreten.)

Doch für die Gesellschaft sei es nicht wichtig zu wissen, wann orthodoxe Christen Weihnachten feiern. «Wie kommen diese Traditionen zustande? Wie vergehen sie?» – dies interessiere die Kinder. Wie Kessler befand Kyriacou, aus den Geschichten werde zu wenig gemacht, und spitzte es auf Freidenker-Weise zu: Bei der Noah-Geschichte wäre auch der «grösste Genozid aller Zeiten» zu diskutieren …

Wenn im teaching about religion diverse, auch östliche Religionen behandelt werden müssen, bleibt für die einheimische Tradition wenig Zeit. Laut Kessler verstärkt die Kurzdarstellung die Klischees über Religion; das sei kontraproduktiv.

Viele Zugänge zur Welt

Kyriacou regte sich darüber auf, dass das Sekundar-Lehrmittel den Atheisten und Agnostikern bloss eine Doppelseite widmet und da auch der Zwangsatheismus kommunistischer Staaten erwähnt wird. Die Freidenker wünschten, dass säkulares Denken als Kraft zur ethischen Lebensgestaltung – wie schon in der Antike – breit thematisiert wird. In Zürich habe man nicht aufgezeigt, «wie bei Kindern aus religionsfernen Haushalten Wertvorstellungen entstehen». Da bleibe eine «implizite Stigmatisierung» – als würde säkular lebenden Menschen etwas fehlen. Für eine nicht-religiöse Wertediskussion empfahl er Lessings Ringparabel.

Kessler nahm den Faden mit der Bemerkung auf, der rationalistisch-naturwissenschaftliche Zugang zur Welt und andere, etwa der künstlerische, poetische seien einander gegenüberzustellen. Denn viele Menschen sähen Religion als bestimmte Art zu sein in der Welt, die nicht im Widerspruch zu den Naturwissenschaften stehe. Dominiere der szientistische Zugang (der in den naturwissenschaftlichen Schulfächern herrscht; Red.), komme das Sehnen nach Wiederverzauberung der Wirklichkeit auf.

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