Ihr drittes Denkfest konnten die Schweizer Freidenker mit Unterstützung des Zürcher Vereins fürs Reformationsjubiläum durchführen. Unter dem eigenwillig interpretierten Titel «Reformationen des Denkens» sprachen Atheisten und Humanisten aus mehreren Ländern. Der Lausanner Religionssoziologe Jörg Stolz hielt den Gottlosen einen Spiegel vor. Er präsentierte die ersten Ergebnissen einer Studie über ihre Szene. Am selben Nachmittag sprachen auch die prominente Berliner Muslima Seyran Ates und der atheistische Blogger Raphael Dorigo.

Der Lausanner Religionssoziologe Prof. Jörg Stolz untersucht mit einem internationalen Team die Szene der Konfessionslosen. Am Denkfest im Zürcher Volkshaus stellte er erste Ergebnisse vor. Viele der Anwesenden waren für die Studie interviewt worden. Die Forscher unterscheiden zwischen säkular lebenden Menschen und Säkularisten, die ihre gottlose Weltanschauung in einer Vereinigung pflegen und öffentlich promoten.

Im Saal verwiesen die Veranstalter auf andere Projekte ihres Sponsors, des Zürcher Vereins fürs Reformationsjubiläum.

In der Schweiz stellen die etwa 2000 organisierten Säkularisten bloss 0,02 Prozent der Bevölkerung – «eine kleine Minderheit mit einer erstaunlich grossen medialen Präsenz». Jörg Stolz erklärt sie durch die rasche Zunahme der Konfessionslosen in den letzten Jahrzehnten und die Gewohnheit von Medienleuten, scharfe Gegenpositionen zu Mehrheitsmeinungen zu erfragen.

Im Selbstverständnis sind Säkularisten Freikirchlern polar entgegengesetzt, indem sie ihre Identität von bekennender Religionslosigkeit bestimmen lassen. Zwei von drei Säkularisten fänden, Religionen seien schädlich, berichtete Stolz. Sie hielten alle Religionen ausser dem Buddhismus für bedrohlich. Die kleine Szene hat fast viermal mehr Männer als Frauen, die häufig in kirchenfernen Elternhäusern aufgewachsen sind. Zu ihr gehören – dies ist bekannt – viele Hochgebildete, die eher in der Stadt leben und politisch links vom Durchschnitt stehen.

Mittlere Unzufriedenheit

Kurzes Gelächter erntete Jörg Stolz mit dem Umfrage-Ergebnis, dass Säkularisten etwas weniger zufrieden sind als der Durchschnittsschweizer. Für säkulare Spiritualität sind sie nach dem Religionssoziologen kaum zu haben. Die Vereinigungen der Szene seien eher eine religionskritische politische Bewegung als atheistische Glaubensgemeinschaften. Die Partnerwahl sei oft hürdenreich. Stolz: «Die säkularistische Gruppe wird möglicherweise nicht wachsen, eventuell sogar schrumpfen.»

Das Gegenläufige (Wachstum) hielt der im Saal anwesende Michael Schmidt-Salomon für die Giordano-Bruno-Stiftung in Deutschland fest. Zur Frage des Glücks meinte er, Hochgebildete litten mehr unter Missständen in der Gesellschaft. Schmidt-Salomon wies darauf hin, dass sich bei ex-Muslimen in Deutschland Frauen stärker engagieren als Männer!

Den Glauben verloren: Raphael Dorigo.

Kampf für «säkularen, liberalen Islam»

Dies begründete die Berliner liberale Muslima Seyran Ates, die mit Bodyguards angereist war, im folgenden Vortrag damit, dass «wir im Patriarchat leben». Die prominente Rechtsanwältin bezeichnete sich als Gott-Gläubige, die dafür kämpft, «dass Politik etwas anderes ist als Religion». Sie habe in Berlin die Ibn Rushd-Goethe-Moschee für ein menschenrechtsgemässes Zusammenleben von Männern und Frauen gegründet – nicht als Verein, denn dieser könne von Muslimen unterwandert werden, sondern als gemeinnützige GmbH!

Ates schilderte Facetten des sozialen Drucks und der Indoktrinierung in Deutschland. Sie zitierte den grossen persischen Sufi-Dichter Rumi. Ihre religiöse Überzeugung helfe ihr, «über Zeiten vieler Drohungen und Gewalt hinwegzukommen und positiv zu bleiben». Sie und ihre MitstreiterInnen – aus der Schweiz Saïda Keller-Messahli und Elham Manea – wollten aufzeigen, dass «Islam (als Religion) mit Demokratie – ein politisches Konzept, in dem sich alle wiederfinden können – vereinbar ist». Dieser Glaube wurde von den etwa 170 Anwesenden mit stürmischem Applaus quittiert…

Wenn Glaube im Zweifel untergeht

Vor Jörg Stolz hatten im Volkshaus der britische atheistische Humanist Anthony C. Grayling und der Basler Apostat Raphael Dorigo referiert. Dieser gewährte bewegende Einblicke in seine Biografie. Christlich erzogen, legte Dorigo nach dem Suizid des Vaters mit 14 an religiösem Eifer zu. «Die Bibel fordert ganze Hingabe – das ganze Leben Gott unterzuordnen.» Doch irgendwann sei ihm die Tendenz aufgefallen, dass Christen darauf achten, was ihren Glauben bestätigt. «Man setzt Gottes Existenz einfach reflexartig voraus.» Dies habe er insgeheim zu hinterfragen begonnen.

Dabei blieb Dorigo sehr aktiv. In der reformierten Kirchgemeinde in Basel konnte er als einziger Nicht-Theologe predigen. Nach Jahren habe er sich 2014 seine Zweifel eingestanden. «Warum versteckt sich ein liebender Vater vor seinen Kindern? … Gott schwieg seit Monaten – obgleich ich ihn inbrünstig um Hilfe bat.»

Die deutsche liberale Muslima Seyran Ates kam mit Bodyguards ans Denkfest.

Gott und das Böse

Anfang 2015 begann Raphael Dorigo Atheisten zu lesen. «Sie pulverisierten die letzten Reste meines Glaubens in wenigen Wochen», sagte der 25jährige Linguist im Rückblick. Was sehr wehtat – denn seine Freundin wollte er nicht verlieren. Doch die Antworten von Christen auf die grossen Fragen hätten ihn nicht mehr überzeugt. «Gott kann Böses nicht zulassen und gut sein!» Der Glaube sei nun für ihn dem Realitätssinn und der Vernunft im Wege gestanden: «Warum würde Gott uns zu blöd erschaffen, um seine Welt zu verstehen?»

Dorigo verliess die christliche Szene – seine Freunde hätten sehr betroffen reagiert, aber nicht Druck gemacht, sagte er im Volkshaus. Er startete inzwischen den Blog bibelkritik.blogspot.ch, lebt mit einer ex-Gläubigen zusammen, geniesst nach eigenem Bekunden freie Sonntage und freut sich an der Wissenschaft. Der Glaube, fasste der Apostat, ruhe auf zwei Säulen: Ignoranz und Angst. «Ein Fundamentalisit ist nichts anderes als ein konsequenter Gläubiger.» Der Glaubensverlust – dies verschwieg Dorigo nicht –  bringe Einsamkeit und Verunsicherung mit sich – und zwinge zur Suche nach einer Moral ohne Gott.

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