Kann das, was Zürcher Landeskirchen für die Gesellschaft leisten, beziffert werden? Welche Bedeutung haben die kirchlichen Angebote für die Leute? Eine aufwendige Studie zeigt unter anderem, dass Gottesdienst und Seelsorge für die Bevölkerung viel wichtiger sind als Bildungsangebote und politisches Engagement. Und: grössere Gemeinden sind nicht in höherem Masse für die Gesellschaft tätig als kleinere.

Die Studie interessiert, weil sie übers Image der Landeskirchen im Kanton viel aussagt. Darüber hinaus ist sie selbst ein Faktor in den Beziehungen Kirche-Staat: Nach dem Kirchengesetz, das 2010 in Kraft trat, leistet der Kanton Beiträge an kirchliche „Tätigkeiten mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung“. In der ersten Sechsjahre-Periode seit 2014 sind es jährlich 50 Millionen.

Im Blick auf die zweite Periode ab 2020 gaben der Kanton, die reformierte Landeskirche und die römisch-katholische Körperschaft beim Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich (IPZ) die Studie in Auftrag. Die Kirchgemeinden waren gehalten, 2015-2016 während zwölf Monaten ihre Angebote und Tätigkeiten anzugeben.

Die Daten wurden vom IPZ ausgewertet. Die Politikwissenschaftler um Prof. Thomas Widmer errechneten zudem den Aufwand und stellten der kirchlichen Angebotspalette eine doppelte Aussensicht (Gemeindeschreiber und Bevölkerung) gegenüber. Die Auftraggeber veröffentlichten die Studie im Juni 2017.

Die Sicht der Gemeindeschreiber

Welche Angebote der Kirchgemeinden finden die Gemeindeschreiber der politischen Gemeinden wichtig? 129 im Kanton antworteten. Deutlich stehen Seelsorge und Gottesdienst im Vordergrund; dagegen finden viele die Entwicklungszusammenarbeit, Bildungs- und Betreuungsangebote und Beiträge zu öffentlichen Debatten nicht so wichtig. An ökumenischen und interreligiösen Angeboten wünschen manche Gemeindeschreiber mehr; auch die Förderung freiwilliger Arbeit scheint ihnen sinnvoll.

Die politischen Gemeinden nutzen kirchliche (v.a. kulturelle, kaum Bildungs-)Angebote und Räume; viele entschädigen die Kirchen nicht. Die meisten Gemeindeschreiber billigen den Kirchen zu, dass sie den Menschen „Sinn, Lebensorientierung und Halt“ bieten. Die Mehrheit meint auch, dass Kirchen in Krisen rascher und flexibler reagieren können. Fast die Hälfte meint indes, dass „das freiwillige Engagement bei privaten Vereinen und Organisationen besser zum Tragen kommt als in den Landeskirchen“.

Auf eine betreffende Frage antworteten viele Gemeindeschreiber, dass die Kirchen Kindern und Jugendlichen wie auch Senioren zu viel anbieten. Mehr könnte für sozial Schwache und Migranten getan werden (die Umfrage wurde Anfang 2016 gemacht). Für fast ein Drittel der Befragten sind die kirchlichen Angebote nicht mehr zeitgemäss. Der Erhalt architektonisch wertvoller Gebäude wird als wichtige Aufgabe der Kirchen gesehen. Hier und in der Sozialarbeit sehen viele Gemeindeschreiber für die politischen Gemeinden Handlungsbedarf, sollten die Kirchen ausfallen.

Seelsorge und Gottesdienst am wichtigsten

Was denkt die Bevölkerung des Kantons – Zielgruppe der öffentlich-rechtlich anerkannten Kirchen – über ihre Tätigkeit? Für den Fragebogen des IPZ wurden Ende 2015 Interviewpartner gesucht. Unter den 1200 Befragten (mehr als fünf Sechstel der Angefragten mit Festnetzanschluss wollten nicht Auskunft geben) sind die Mitglieder der Landeskirchen übervertreten.

Am wichtigsten sind für die Befragten „Seelsorge“ sowie „Gottesdienst oder Messe“. Auch die Förderung der freiwilligen Mitarbeit und „Ökumene, Dialog zwischen den Religionen“ (als ein Bereich abgefragt!) sowie diakonische und kulturelle Angebote erwarten viele Befragte. Nicht zum Kerngeschäft der Landeskirchen gehören hingegen für die meisten Betreuungs- und Bildungsangebote sowie „Beiträge zu öffentlichen Diskussionen“.

Kirche – gut für die andern

Zu denken geben muss den Kirchen, dass sich die jüngste Altersgruppe (16-25 Jahre) deutlich abhebt – durch geringere Erwartungen in den meisten Bereichen. Diese Altersgruppe wünscht weniger als die andern, dass die Landeskirchen unter Kindern und Jugendlichen, Familien und Senioren arbeiten! Eher sollen sie für „sozial Schwache und Armutsbetroffene“, Suchtkranke und Migranten da sein.

Zu welchen Tätigkeiten der Landeskirchen soll der Staat finanziell viel beitragen? „Seelsorge“ und „Sozialberatung und -leistungen“ sowie Begegnungsangebote werden von den Befragten priorisiert, Betreuung und Entwicklungszusammenarbeit minder gewichtet. Es fällt zudem auf, dass für die befragten Nicht-Mitglieder der Landeskirchen die Angebote im Bereich „Ökumene und Dialog zwischen den Religionen“ zwar wichtig, aber weniger staatlich stützungswürdig sind.

Als Fazit halten die Autoren fest: „Im Vergleich zu den anderen Angeboten messen die Befragten dem kirchlichen Tätigkeitsbereich ‚Bildung‘ deutlich weniger Bedeutung zu“. Aus den Befragungsdaten lasse sich kein staatlicher Handlungsauftrag ableiten. Insgesamt „sollten sich die Angebote der Landeskirchen … vor allem an sozial Schwache und Armutsbetroffene sowie Seniorinnen und Senioren richten“.

Auch „Kultisches“ kann gesellschaftlich relevant sein

Die Studie wurde vom Kanton und den grossen Landeskirchen in Auftrag gegeben, um die Berechtigung der Staatsbeiträge für deren „Tätigkeiten mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung“ (TgB) zu eruieren.  Laut dem Kirchengesetz sind mit den TgB vor allem Aktivitäten in den Bereichen Bildung, Soziales und Kultur gemeint. Im Unterschied zu den Kirchensteuermitteln von Unternehmen können die Staatsbeiträge auch für kultische Zwecke verwendet werden – sofern diese von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind.

Ob es solche kultischen Tätigkeiten gibt, ist politisch umstritten. Die Verfasser bejahen es; sie verstehen Aktivitäten der Landeskirchen als TgB, wenn sie staatliche Leistungen ersetzen „oder die allgemeine Bevölkerung Nutzniesserin der Angebote ist“. Darunter fallen also auch kultische Tätigkeiten und Angebote, wenn sie sich an alle,  nicht nur an Kirchenmitglieder, richten, wenn sie der gesamten Bevölkerung zugänglich sind und von Nicht-Mitgliedern entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil beansprucht werden. Als kultisch werden Tätigkeiten bewertet, bei denen liturgische oder katechetische Leistungen erbracht werden oder die „einen hohen kultischen Anteil aufweisen“.

Die Verfasser betonen, dass „der Wert der Landeskirchen als religiöse Institution“ nicht im Fokus der Studie stand. „Der Beitrag der Landeskirchen zur Solidarität, Stabilität oder zum Sozialkapital einer offenen, demokratischen Gesellschaft wurde folglich nicht erfasst.“

Die kirchlichen Angebote und der Aufwand

Die reformierten Kirchgemeinden und Dienststellen gaben während der zwölf Monate (Oktober 2015 bis September 2016) im ganzen 55‘792 Angebote ein, die römisch-katholischen 30‘574. Die Studie erfasst insgesamt Leistungen der beiden Landeskirchen im Umfang von 251 Millionen Franken. Dazu wurden Behörden- und Freiwilligenstunden in Geldbeträge umgerechnet.

Liturgische und katechetische Tätigkeiten stellen bei beiden Landeskirchen über 40 Prozent der erfassten Angebote dar. Übers Ganze liegt der durchschnittliche kultische Anteil bei den katholischen Angeboten deutlich höher als bei den reformierten (39,3 zu 31,6 Prozent). Und Angebote der Reformierten werden tendenziell häufiger von Nichtmitgliedern genutzt.

Bei den Reformierten werden etwa 12 Prozent der Tätigkeiten als gesamtgesellschaftlich bedeutsam bezeichnet, bei den Katholiken 11 Prozent. In den beiden Landeskirchen werden jährlich 1,9 Millionen Stunden von Freiwilligen und Ehrenamtlichen geleistet – dies entspricht laut der Studie 870 Vollzeitstellen. Der katholische Anteil daran ist leicht höher; bemerkenswert ist, dass die Reformierten über sechsmal so viele Behördenstunden angeben wie die Katholiken.

Mehr geleistet als bezahlt

Unter dem Strich will der Kanton wissen, was er für seine Beiträge von den Landeskirchen erhält. Die Forscher haben berechnet, dass die nicht-kultischen TgB mehr wert sind als was die Kirchen dafür erhalten. Wenn allerdings die Kriterien zur gesamtgesellschaftlichen Bedeutung enger gefasst werden (höheres Interesse von Nicht-Mitgliedern verlangt), liegen die entsprechenden Leistungen der Kirchen unter dem Geldwert der Beiträge.

Die Studie bestätigt auch, dass die Steuererträge der juristischen Personen deutlich unter dem Aufwand der Landeskirchen für nicht-kultische Tätigkeiten liegen.

Pikant für die reformierte Debatte um KirchGemeindePlus: Grössere Kirchgemeinden haben keinen höheren Anteil von TgB an ihren gesamten Leistungen als kleinere. – Dies deutet darauf hin, dass sich Zusammenschlüsse von Kirchgemeinden für den gesellschaftlichen Nutzen nicht aufdrängen; entscheidend ist das Engagement vieler Christen in der Gemeinde vor Ort.

„Wertvoller Beitrag“

Die Autoren des IPZ bilanzieren, dass die beiden Landeskirchen mit ihren Tätigkeitsprogrammen 2014-2019 einen „wertvollen Beitrag“ für die Gesellschaft leisten. Die Tätigkeiten mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung rechtfertigten die staatlichen Kostenbeiträge „mehr oder weniger deutlich“. Mittelfristig solle der Kanton überlegen, ob sich auch andere religiöse Gemeinschaften für Beiträge qualifizieren könnten.

Den Landeskirchen wird empfohlen, vermehrt offenzulegen, wie sie die Mittel einsetzen (der Kanton soll dies einfordern). Würden sie ihre umfangreichen nicht-kultischen Tätigkeiten vermehrt für Nicht-Kirchenmitglieder öffnen, könnten sie ihre Relevanz für die Gesellschaft erhöhen. Allerdings, so die Autoren abschliessend, heisst dies nicht, die Kirchen sollten „Kirchen für alle“ werden. „Es ist selbstverständlich sinnvoll, dass die Kirchen auch weiterhin Angebote realisieren, welche sich dezidiert an die eigenen Kirchenmitglieder richten.“

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