Was kommt mit der Vorlage des Kirchenrats zur Strukturreform auf die Zürcher Kirchgemeinden zu? – Eine Einschätzung.

Was treibt der Kirchenrat KirchGemeindePlus voran? Machen die Reformierten Ernst, wie die NZZ titelte? Ist es höchste Zeit für mehr Druck, wie die Landzeitungen kommentierten? Jedenfalls hat der Kirchenrat am 26. Mai einiges klar gemacht. Und das war nötig. Den ursprünglichen Bericht der Exekutive, von Kirchenratspräsident Michel Müller vertreten, hatte die Kirchensynode am 24. November 2015 haushoch zurückgewiesen, mit 16 Zusatzfragen und einer Motion.

Was sticht beim ergänzten Bericht, der am 26. Mai vorgestellt wurde, ins Auge?

• Der Kirchenrat macht vorwärts, mit forciertem Tempo. Er hält «am Grundsatz fest, dass die neuen Strukturen … bis 2019 implementiert sein sollten». Ein flächendeckender Reformplan für Gemeindefusionen liegt auf dem Tisch, zu dem sich – falls die Kirchensynode ihn genehmigt – die Kirchenpflegen im Herbst äussern können. Die Kirchensynode soll den überarbeiteten Plan im Juni 2017 billigen, als verbindliche Grundlage für Gemeindefusionen.

Für Zusammenschlüsse eröffnet der Kirchenrat den Kirchgemeinden allerdings weitere Zeitfenster: Nach 2017 könnten sie auch 2019, 2021 und 2023 noch vollzogen werden. Doch die künftigen Grenzen wären schon im Frühjahr 2017 fix.

• Der  Kirchenrat will grosse und sehr grosse Gemeinden, nicht nur grössere. Es soll in der Zürcher Landeskirche gar keine kleinen und mittleren Kirchgemeinden mehr geben. Auf Dauer angelegten Kooperationen erteilt der Kirchenrat eine Absage. In den angestrebten Grossgemeinden sind keine selbständigen Substrukturen erlaubt. (Dem Zürcher Stadtverband verwehrt der Kirchenrat das Einrichten von Kirchenkreisen, Untereinheiten der geplanten Stadtkirchgemeinde.)

Mit dem Reformplan wird die Zusammenlegung zu 39 Kirchgemeinden anvisiert. 13 würden 10‘000-19‘000 Mitglieder haben, Winterthur über 35‘000, Zürich über 85‘000 Mitglieder. Damit geht der Kirchenrat weit über die 2012 genannte Zielgrösse von 5000-7000 Mitgliedern hinaus. Als einzige Gemeinde soll Bülach, das über 10‘000 Mitglieder hat, nicht fusionieren.

• Die Losung «Keine Kirchgemeinde bleibt allein» hat es in sich: Geschwächten und für ihre Nachbarn unattraktiven Gemeinden macht sie Mut. Effektiv markiert sie aber einen Bruch mit dem Grundsatz der Gemeindeautonomie. Der Kirchenrat überspielt dies mit dem Hinweis auf die Vielfalt der postmodernen Lebenswelten. «Um Menschen in ihrer Pluralität nahezukommen, braucht eine Gemeinde eine gewisse kritische Masse – auch an Ressourcen», hiess es bei der Präsentation des Reformplans.

Der Kirchenrat setzt darauf, dass grosse Kirchgemeinden mehr Spezialitäten entwickeln werden: «Bewegungen, Netzwerke und Profilorte». Wer bietet – nach den bisherigen Erfahrungen in der Deutschschweiz – Gewähr für solche lebensweltlichen Spezialitäten, wer entwickelt neue Gemeindeformen? Mit Grösse ist es nicht getan. Sind in der pfarrerzentrierten Zürcher Kirche grössere Gemeinden bisher durch Sensibilität für verschiedenste Lebenswelten aufgefallen?

• Der Kirchenrat macht Prognosen des kantonalen Statistischen Amtes öffentlich, die er in Auftrag gab: die vermuteten Mitgliederzahlen der künftigen Gemeinden 2023, 2030 und 2040. Damit verstärkt er den Eindruck, dass Zahlen ihn und seine Berater leiten. Er thematisiert aber nicht, wohin die Landeskirche driftet und was aus ihrem öffentlich-rechtlichen Status wird, wenn der Anteil an der Bevölkerung unter 20 Prozent fällt. Diese Debatte ist jedoch auch zu führen, wenn man 2040 ins Spiel bringt.

• Der Kirchenrat macht die Zukunft der Gemeinden von der Professionalität ihrer Dienstleitungen abhängig. Profis sind teuer. KirchGemeindePlus vervielfacht Zahl der Kirchgemeindeschreiber- und administrativen Stellen und erhöht die Anforderungen an Kirchenpflegerinnen und -pfleger nochmals. Das ist nicht die angemessene Antwort auf den Trend der De-Institutionalisierung. Mit der weiteren Schrumpfung der Kirche kommt es mehr und mehr auf Freiwillige an. Wie Mitglieder für freiwillige Engagements – vor Ort und regional! – gewonnen werden können, wenn die wesentlichen Entscheide überörtlich fallen, lässt der Kirchenrat offen. Der Verlust an Nähe und überblickbarer Gemeinschaft, nicht nur für Dorfgemeinden wesentlich, scheint ihm keine Sorge zu bereiten.

• Der Kirchenrat macht Hoffnungen, die sich als Illusion erweisen können. Für Kirchgemeinden mit schwacher Beteiligung mag sich die Fusion als Notbehelf aufdrängen; die eigentlichen Probleme löst sie nicht. Für Gemeinden mit besserer Beteiligung (aktive Teams, Kinder- und Jugendgruppen, Kurse …) dürfte eine Fusion alles komplizierter machen, wenn auch neue Chancen sich eröffnen. Der Kirchenrat zeigt nicht auf, wie das bisher verbreitete Schlechtreden von missionarischen Aktivitäten bei Fusionen verschwinden soll.

• Der Kirchenrat macht Schluss mit dem bisherigen Parochialsystem und Pfarramt. Vom Wortsinn her ist der Pfarrer derjenige, der bei den Leuten wohnt. Künftig sind – wenn KGP durchgezogen wird – die Pfarrpersonen wie alle andern angestellt von einer überörtlichen Gemeinde; sie sind überörtlich tätig und einer überörtlich zusammengesetzten Kirchenpflege zugeordnet (d.h. komplexe Absprachen, noch mehr Sitzungen). Das Einzelpfarramt wird abgeschafft. Kirche am Ort oder im Quartier wird es in der bisherigen Form nicht mehr geben – mit allen erwünschten und unerwünschten Folgen.

• Der Kirchenrat macht nicht deutlich, wie in diesem Umbau der reformierte Gemeindeaufbau (Art. 86 der Kirchenordnung*) gefördert werden soll. Richtigerweise erteilt der Kirchenrat «Besitzstanddenken, Ängstlichkeit und Neid» eine Absage – sie dürfen die Gemeinden nicht blockieren. Doch ist der Auftrag des Gemeindeaufbaus nicht erfüllt, wenn mit Regionalgemeinden Voraussetzungen (welche?) für die oben erwähnten «Bewegungen, Netzwerke und Profilorte» geschaffen werden. Prof. Ralph Kunz: «Regionalisierung ist solange ein leeres Schlagwort, als es keine Gemeinden am Ort gibt, die leibhaftig leben, was der Glaube verlangt.»

• Der Kirchenrat macht einen Bogen um die Kosten von KirchGemeindePlus. Die von der Synode gestellte Frage beantwortet er nicht mit Zahlen, sondern behauptet bloss, die Landeskirche werde «nach der Reform ihre Ressourcen gezielter und gebündelter einzusetzen vermögen».

Die genannten Punkte zeigen die Komplexität der Strukturreform auf. Dass der Kirchenrat trotz allen offenen Fragen an seinem Zeitplan festhält, irritiert: Die Kirchenpflegen haben – sofern die Kirchensynode dem Vorgehen im Sommer zustimmt – bis Januar 2017 zum Reformplan Stellung zu nehmen. Das heisst, der Kirchenrat fordert die Kirchgemeinden auf, noch dieses Jahr festzulegen, mit welchen Nachbargemeinden sie in Verhandlungen treten wollen. Verhandlungen, die bis 2023 in Fusionen münden müssen.

Der Kirchenrat, geleitet von Pfr. Michel Müller, macht Druck. Seine Macht ist nicht zu unterschätzen. Mit seinen Mitarbeitenden gibt er einen Kurs vor und baut einen Sog auf, dem sich viele Gemeinden kaum entziehen können. Werden sie mit KirchGemeindePlus als Gemeinschaften des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung weiterkommen, wachsen und mehr dem Evangelium gemäss handeln? Wenn sich wegen der forcierten Reform Tausende von der Kirche abwenden, wird ein Minus resultieren.

 

* Zum Gemeindeaufbau hält die Kirchenordnung in Art. 86 fest:

  1. Gemeinde wird gebaut durch Gottes Geist, wo Menschen im Glauben gestärkt werden, neue Lebenskraft, Orientierung und Hoffnung finden und ihren Glauben in der Gemeinschaft leben können.
  2. Gemeindeaufbau schafft Raum für die Gemeinschaft im Feiern, im Hören auf Gott, im Beten und Dienen sowie im Mitwirken der Mitglieder gemäss ihren Begabungen.
  3. Gemeindeaufbau bedeutet, dass Menschen für die Nachfolge Christi und seine Gemeinde gewonnen werden, dass die Gemeinde das Evangelium bezeugt und den Dienst der Vermittlung und Versöhnung in der Gesellschaft wahrnimmt.
  4. Gemeinde wird gebaut als Kirche am Ort in der Kirchgemeinde und als Kirche am Weg in übergemeindlichen, regionalen und gesamtkirchlichen Aufgaben, Projekten und Werken.
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.
Menü