Megafusion in der Stadt Zürich

10. Januar 2019 – Mit der Kirchgemeinde Zürich hat an Neujahr ein einzigartiges Experiment begonnen. Wie viel geistliches Leben bei der Zentralisierung möglich wird, wie Glaube, Liebe, Hoffnung gefördert werden, wird sich zeigen.

Genau 500 Jahre nach Zwinglis erster Predigt im Grossmünster ist die Kirchgemeinde Zürich am 1. Januar gestartet. Der Zusammenschluss von 32 Stadtzürcher Quartiergemeinden und Oberengstringen zu einer Gemeinde mit über 80‘000 Mitgliedern wurde absehbar, als die Stimmberechtigten 2014 im Grundsatz Ja sagten.

Die Strukturen der Riesengemeinde wurden erst nachher festgelegt. Das Kirchenvolk konnte sich dazu in der Abstimmung über die Kirchgemeindeordnung (KGO) im November 2018 äussern, nachdem die Kirchensynode den Weg dazu freigemacht hatte. Im Januar 2018 genehmigte sie die Fusion, obwohl die KGO noch nicht vorlag; dabei wurde den Quartiergemeinden Hirzenbach und Witikon ermöglicht, dem Zusammenschluss fernzubleiben.

Wie ist die Kirche in den Trendquartieren der Stadt präsent?

In der Abstimmung am 25. November bejahten rund 24‘000 der 70‘000 Stimmberechtigten in der Stadt den Zusammenschluss (Beteiligung 42,7 Prozent). Die Kirchgemeinden waren bisher im Stadtverband verbunden, der die Finanzen verwaltete und gesamtstädtische Projekte verfolgte. Neu werden auch Personal und Gebäude zentral gemanagt, was sich etwa an einer Immobilienabteilung mit aktuell 12 Angestellten zeigt.

Kirchenpflege und Kirchgemeindeparlament
Die 33 Kirchgemeinden gehen in zehn Kirchenkreisen auf, die vorerst mit den Zahlen der (politischen) Stadtkreise bezeichnet sind. Die Kirchenpflegen in den Quartieren hören auf zu existieren; an ihre Stelle tritt eine siebenköpfige Kirchenpflege (derzeit arbeitet ein Übergangsgremium); sie und ein 45köpfiges Kirchgemeindeparlament werden im November 2019 gewählt.

Jean E. Bollier, der seit 1999 in Höngg als Kirchgemeindepräsident geamtet hat, äusserte sich in der letzten Nummer des Gemeindeblattes zu den Erfolgsaussichten der Fusion. Die Höngger Gestaltungskraft werde in der grossen Stadtgemeinde verschwinden. «Die Zielsetzung lautet jetzt: Städtisch-kirchliche reformierte Identität geben! Die Kirche ‹vor Ort› wird Mühe haben, und die Stimme aus Höngg, für Höngg wird verschwinden oder zumindest sehr viel schwächer werden!»

Zehn Kirchenkreise
Die neue Kirchgemeindeordnung (KGO) kennt keine Quartierkirchgemeinden mehr, allein Kirchenkreise. Die zehn Kirchenkreise, die aus 2-4 Quartiergemeinden entstehen, «dienen der Vielfalt und der Gestaltung des kirchlichen Lebens» (Art. 3 KGO). Sie sind rechtlich unselbständig. In jedem Kirchenkreis hat eine Kommission die Aktivitäten zu koordinieren.

Die Kirchenpflege setzt die Kommissionen ein; Kirchenkreisversammlungen sollen Leute empfehlen. Die Kirchenpflege «delegiert mittels Behördenerlass Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse» an die zehn Kommissionen (Abstimmungsbroschüre). Sie haben sich «um die bedarfsgerechte gedeihliche Entwicklung der auf ihrem Gebiet tätigen lebensräumlichen und lebensweltlichen kirchlichen Orte» zu kümmern (Art. 38 KGO).

Die Kirchenpflege, von links Henrich Kisker, Mireille Schnyder, Michael Hauser, Annelies Hegnauer, Barbara Becker, Claudia Bretscher und Präsident Andreas Hurter. (Bild: Gion Pfander)

Ein Wahlkreis
Die Stadtzürcher Reformierten gehören dem Kirchenkreis an, in dem sie wohnen, sofern sie es nicht anders bestimmen. Sie können im Vierjahresrhythmus die über 50 Pfarrerinnen und Pfarrer, die Kirchenpflege und das Kirchgemeindeparlament wählen. Es gibt dafür einen Wahlkreis. Das Kirchenvolk kann über einmalige Ausgaben von mehr als zehn Millionen Franken und weitere wichtige Geschäfte abstimmen; dazu kommen das Initiativ- und das Referendumsrecht (500/300 Stimmberechtigte).

Die übrigen Kompetenzen liegen bei den zentralen Gremien. Die Machtfülle der Kirchenpflege (abgesehen vom Jahresbudget von 100 Millionen Franken) zeigt sich in der KGO an diversen Befugnissen, auch darin, dass sie die Leitung des Konvents wählt, in dem sich Pfarrpersonen und Angestellte treffen. An den Kirchenpflegesitzungen sind die Pfarrschaft mit maximal vier Personen, der Gemeindekonvent mit einer und die Verwaltung mit dem Geschäftsführer vertreten.

Kommissionen der Stadtkirche
Die Kirchenpflege setzt eine Kommission ein, welche die ihr zugewiesenen Institutionen und Projekte führt, und eine fürs Personal. Zudem kann sie Ausschüsse bestellen und ihnen oder Einzelpersonen Geschäft(sbereich)e übertragen. Das Parlament hat eine Rechnungs- und Geschäftsprüfungskommission. Kirchenpflege und Parlament wählen die Pfarrwahlkommission.

Die weltweit einzigartige Struktur ist der Grösse geschuldet. Wie die Mitglieder der Stadtgemeinde miteinander Kirche sein – kirchliche Gemeinschaft leben – werden, ist noch nicht klar. Von den «Profilorten», die 2014 versprochen wurden, ist nicht mehr die Rede.

Miteinander Kirche?
In der Kirchensynode sprach der Urdorfer Pfarrer Ivan Walther von einer «Monster-Gemeinde»; diese könne sich nicht auf die Reformatoren berufen. Das reformierte Verständnis von Gemeinde, das aus dem gemeinsamen Hören auf Gott im Gottesdienst erwächst, verblasst.

Blick vom Grossmünsterturm.

Vorerst sind die Verantwortlichen mit dem strukturellen Aufbau beschäftigt. «Man weiss noch nicht, wer die Rechnungen zahlt – man wird sie einschicken», ist aus einem Quartier zu hören. Wie die Leute in den Quartiergemeinden, die noch Gestaltungskraft hatten (manche serbelten), sich auf Aktivitäten einigen werden, ist offen.

In einem FAQ-Papier räumten die Verantwortlichen Anfang 2018 ein: «Die Dimension der einen Kirchgemeinde übersteigt zurzeit nicht nur die Vorstellungskraft, sondern auch die Kraft, sich inhaltlich zu einer gemeinsamen Identität zusammenzufinden.»

Was zieht junge Erwachsene an?
Die Befürchtung ist spürbar, dass mit den Kirchenkreisen die Kirche vor Ort verfällt, weil bisher Engagierte sich zurückziehen. In den letzten Jahren wurden Stellen in der Sozialdiakonie gekürzt. Viel wird davon abhängen, dass junge Erwachsene, die in die Stadt ziehen, attraktive Gemeinschaften und Angebote vorfinden.

Die Erwartungen an die neue Gemeinde gehen auseinander. Die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch gab sich in ihrem Grusswort zuversichtlich, dass die von den Mitglieder erwarteten Leistungen nun «effizient und kostengünstiger» erbracht würden und dass «auch ein breites und intensives Gemeindeleben entstehen wird».

Ueli Schwerzmann, bisher Präsident der Kirchgemeinde Neumünster, wünscht, dass «Diskurse geführt werden, auch zu kontroversen Themen. Dialoge sollen ermöglicht und Vorschläge entwickelt werden». Die Kirche solle Lebensprobleme ansprechen – «bellen und kläffen, auch wenn es stören sollte!» Muriel Koch, Pfarrerin in Altstetten, hofft, «dass wir das, was die Kirche ausmacht, auch zeigen können: Wir sind alt und neu gleichzeitig.»

Homepage: www.reformiert-zuerich.ch

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