Der Stäfner Pfarrer Michael Stollwerk wagte im Lockdown die Menschen im Dorf «heimzusuchen». An Ostern und Pfingsten brachte ein Team Trostbotschaften und Musik in die Quartiere. Im Gespräch weist Michael Stollwerk auf das Leiden der isolierten Betagten und Kranken hin. Er ist überzeugt: Jeder Christ sollte lernen, in solchen Ausnahmesituationen seelsorglich wirken zu können.
EKVZ: Was haben Sie im Lockdown in Ihrer Gemeinde unternommen – mit welcher Absicht?
Michael Stollwerk: Zunächst einmal haben wir das gemacht, was wohl viele Kirchgemeinden unternommen haben. Wir haben unsere Kirche geöffnet und den Chorraum liebevoll als interaktive Gebetszone umgestaltet. Wir haben Kurzandachten in Form von Videos produziert und online gestellt, unsere SozialdiakonInnen haben Einkaufshilfen angeboten und Telefonseelsorge betrieben usw.
Die Besonderheit unserer Aktionen bestand wohl in Formen spezieller «Outgoing-Projekte», mit denen wir die Leute «heimgesucht» haben. An Ostern bin ich im Cabriolet mit unserem Sigristen mit Alphorn und Trompete in die Quartiere gefahren und habe dort mit dem Akku-Verstärker Kurzgottesdienste gehalten. Da diese Aktion überschwänglich in den Medien, sozialen Netzwerken und von den Leuten vor Ort abgefeiert wurde, haben wir sie an Pfingsten mit mehreren Pfarrpersonen, Mitarbeitenden und Kirchenpflege-Mitgliedern in einer zweispännigen Pferdekutsche wiederholt.
Ziel war es, das Evangelium unter die Leute zu bringen und ihnen die Oster- bzw. Pfingsterfahrung nicht nur virtuell, sondern verleiblicht zu vermitteln. Ganz besonders wichtig war dies für die «eingesperrten» und «weggesteckten» Menschen in den Alterszentren. Hier haben wir sehr zur Freude des Pflegepersonals «Gartengottesdienste» gefeiert, die die Bewohnerinnen und Bewohner draussen mitverfolgen konnten.
Die Pandemie hat Sie auf die Strasse getrieben.
Allerdings! Und zwar mit berührender Resonanz. Natürlich konnte und wollte ich den Leuten in der COVID-Situation keine umfassenden Antworten auf die Frage geben, warum Gott eine solche Pandemie zulässt. Stattdessen haben wir etwas anderes gemacht. Wir haben in dieser Zeit die Kraft des Ritus und der Symbole und die heilende Kraft des Segnens erfahren. Während unserer Strasseneinsätze und in der Seelsorge haben wir – unter Einhaltung der Schutzbestimmungen – gesegnet wie noch nie. Und dabei habe ich wie ein katholischer Priester das Kreuzzeichen über die Menschen gemalt oder habe ihnen von ferne die Hände aufgelegt. Ich habe mit ausgebreiteten Armen die Balkone gesegnet und dabei ein biblisches Segenswort gesagt.
Und was ich erlebte, wenn ich etwa mit 1.50 Meter Abstand über jemand das Kreuz schlug und sagte: «Fürchte dich nicht, spricht der Herr» – und ein Psalmwort anfügte, war bewegend. Dann sind Leuten die Tränen gekommen; sie waren gerührt, getröstet. Die heilende Kraft des segnenden Handelns haben wir in der COVID-Pandemie wiederentdeckt. Und das wünsche ich jedem, der es noch nicht versucht hat. Wir müssen keine 20-Minuten-Predigten halten. Wenn wir zu den Leuten gehen und fragen: «Darf ich Sie segnen?», dann werden wir kein Nein hören, sondern ein «Ja, bitte». Und dann tut’s doch um Gottes willen! – segnet die Leute, tut’s um Gottes willen! Das ist meine Erfahrung – mein Appell!
Wie deuten Sie als Theologe die Pandemie?
Grundsätzlich halte ich mit Deutungen zurück, weil man in der aktuellen Situation schnell danebenliegen kann. Und weil ich auf den prophetischen Geist warte, der in eine Situation hineinspricht. Sehr schnell klar war für mich: Ich kann in dieser Seuche – anders als viele Evangelikale – kein direktes Strafgericht Gottes sehen. Das so zu sagen, fände ich fatal, weil die Seuche – wie viele Seuchen – die Ärmsten der Armen am meisten trifft, wenn man es global sieht. Wenn es ein direktes Strafgericht Gottes wäre, müsste man fragen: An wem? Wen straft denn Gott am meisten? Die Unschuldigsten? Das ist theologisch verquer. Das kann es nicht sein.
Was ich aber glaube: dass die Pandemie in einer gewissen Weise ein Gericht der Menschheit über sich selbst ist. Im Alten Testament sehen wir ja auch Gericht in dem, dass Gott Menschen sich selbst überlässt, dass er sie die Folgen ihres Handelns, ihrer Lebensweise spüren lässt. Die Seuche konfrontiert uns mit den Folgen globaler Vernetzung und eines Umgangs mit Lebens- und Schöpfungsfragen, der Katastrophen nach sich zieht. Wir sind an die Grenzen unseres Machbarkeitswahns gestossen.
Dagegen wehrt sich der Zeitgeist natürlich extrem; er versucht immer noch zu suggerieren, wie sich das in den Griff kriegen lässt. Letztlich glaube ich aber, dass Pandemien uns an unsere Grenzen führen und sich nicht ohne weiteres beherrschen lassen. Sie zeigen unsere Entfremdung vom schöpfungsgemässen Umgang mit den Gütern der Welt an und rufen uns zu einer umfassenden Metanoia, als Umkehr. Und das meine ich spirituell, gesellschaftlich, politisch.
Wie finden wir den Weg aus der Entfremdung?
Auf staatlicher Ebene hat die COVID-Krise positiv gezeigt, wie wenig es braucht, um drastische Massnahmen zu treffen, wenn der politische Wille dazu da ist. Da stehen plötzlich Milliarden zur Verfügung, um Förderprogramme zu entwickeln und notwendige Massnahmen einzuleiten. Da kommt es auf einmal zu einer globalen Zusammenarbeit und zum Austausch von Informationen – etwa um medizinische Geräte bereit zu stellen oder einen Impfstoff zu entwickeln.
Diese wunderbare Erfahrung gilt es nun, auf die nicht minder drängenden Probleme der Welt wie die drohende Klimakatastrophe, die ungerechte Verteilung der Güter oder den Menschenhandel anzuwenden.
Für die Kirchen würde es darüber hinaus darum gehen, ihr spirituelles Potential wieder zu entdecken, aus ihrer «Diesseitsbesoffenheit» aufzuwachen, und ihr Alleinstellungsmerkmal «Christus als Erlöser der Welt» wieder zu entdecken.
Sie haben im Lockdown die Seelsorge als überlebenswichtig hingestellt. Warum?
Um es konkret zu sagen: Wir haben seit März ein COVID-Opfer bestattet, aber fünf Menschen, die nachweislich den Folgen der «Schutzmassnahmen» gestorben sind – aus Einsamkeit! Angehörige sagten mir, der Verstorbene habe geäussert, jetzt sei es Zeit zu gehen; er habe keine Perspektive mehr. Die Isolation in Alters- und Pflegeheimen hat Menschen den letzten Mut geraubt. Zwei leicht demente Menschen waren im März physisch noch kerngesund. Zwei Monate später waren sie tot – sie haben einfach nix mehr gegessen.
Und all das ist ja nicht reflektiert worden; zumindest habe ich es nicht wahrgenommen. Von der Zürcher Landeskirche kamen ellenlange Schutzbestimmungen – wie wir uns zu verhalten hätten, was wir alles nicht dürften… Aber dass da im Hintergrund ein enormes seelsorgliches Problem entstand, dass Handlungsbedarf bestand gerade in Alterszentren – davon hat man kaum was gehört.
Ich bin stolz darauf, diese absurden Einschränkungen in den Wind geschlagen zu haben und – bei aller gebotenen Vorsicht – dennoch leiblich in den Alterszentren präsent gewesen zu sein. Den disziplinarischen Verweis dafür habe ich gerne in Kauf genommen. Denn ich bin ein Freund der Vernunft, aber ein Feind jeglicher Hysterie und gottloser Angst. Die Pflegedienstleitungen unserer lokalen Alterszentren sehen dies genauso. Und dafür bin ich dankbar!
Gottesdienste wurden staatlicherseits öffentlichen Versammlungen gleichgestellt und ähnlich behandelt wie Menschenansammlungen in Bars und Clubs.
Es ist die Aufgabe des Bundesamts, allerhöchste Vorsicht walten zu lassen und über die Einhaltung der Vorschriften zu wachen. Von daher ist es ihm nicht übelzunehmen, in einem ersten Reflex die umfassende Notbremse zu ziehen und einen vorübergehenden gesellschaftlichen Stillstand einzuleiten Der Kirche aber ist aufgegeben, darauf hinzuweisen, welchen Wert Verkündigung und Seelsorge für das Leben der Menschen haben – das muss das Bundesamt nicht tun.
Ich fand es beschämend, dass auch in Deutschland der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sagen musste, dass die Bewahrung des irdischen Lebens nicht das höchste Gut sei und dass es in der Pandemie mehr zu verlieren gäbe als die nackte Existenz. Vermutlich hat er sich als Christ an das Wort Jesu erinnert gefühlt: «Habt keine Angst vor dem, was den Leib töten, doch die Seele nicht töten kann. Habt vielmehr Angst vor dem, was Leib und Seele zu töten in der Lage ist» (nach Matthäus 10,28).
In den Massnahmen zeigte sich das säkulare Selbstverständnis von Staat und Gesellschaft. Wie sollten sich die Kirchen dazu stellen?
An der gesellschaftlichen Geringschätzung, die sich darin zeigt, dass ihr liturgisches und seelsorgliches Handeln während der Pandemie als «nicht systemrelevant» eingeschätzt wird, sind die Kirchen selber schuld. Wer sich selbst in seinem Tun nicht ernst nimmt, kann nicht erwarten, von der Politik ernst genommen zu werden.
Deswegen erwarte, ja fordere ich von unseren Kirchen, dass eine Selbstreflexion über diese Fragen stattfindet. Gottesdienste und kirchliche Seelsorge sind ebenso systemrelevant wie die leibliche Grundversorgung der Bevölkerung und das Handeln der Ärzte und Pflegekräfte.
Worüber sollte in der Kirche vertieft nachgedacht werden?
In Pandemiezeiten tauchen grundsätzliche Fragen auf, die tiefer gehen als die Fragen nach dem Hier und Jetzt, nach den Möglichkeiten gegenseitiger Hilfe usw. Es taucht die Frage nach dem auf, was uns im Leben und im Sterben trägt und hält, woher wir uns Hilfe erwarten dürfen und was die Perspektive derer ist, die im irdischen Sinn nicht mehr zu retten sind. Es tauchen also die so genannten letzten Fragen von Schöpfung und Erlösung auf. Und darauf Antworten geben zu können, das war 2000 Jahre lang und ist noch heute unser «Markenkern», unser Alleinstellungsmerkmal.
Unser Beitrag zur gesellschaftlichen Situation darf sich nicht erschöpfen im «Seid nett zueinander! Haltet Abstand! Seid solidarisch!» Auf diese Appelle kommen die Menschen von selbst. Das müssen wir ihnen nicht noch als Kirche religiös überhöht vorbeten.
Wie haben Sie das Handeln von Landeskirche und Kirchgemeinden im Lockdown insgesamt wahrgenommen?
Zunächst einmal bewerte ich es sehr positiv, wie schnell viele Kirchgemeinden Schutzkonzepte und kreative Ideen der Seelsorge und Verkündigung entwickelt haben. Dass es da und dort schwarze Schafe und «Mietlinge» statt echter Hirten gegeben haben wird, die den Lockdown als willkommene Gelegenheit zum Durchschnaufen missbrauchten, sei dahin gestellt. Nach meiner Wahrnehmung waren ganz viele Kirchgemeinden ganz engagiert unterwegs.
Auch die Rolle der Kirchenleitung ist an dieser Stelle nicht zu unterschätzen und zu loben. Wir in Stäfa haben sehr profitiert von der Vorarbeit des Pandemiestabes der Landeskirche. Wir haben auch gerne zurückgegriffen auf die Gebete und Handreichungen, die online zur Verfügung gestellt wurden.
Insgesamt hat mir die Landeskirche im gesellschaftlichen Kurs allerdings zu defensiv und gerade bei der Frage der «Systemrelevanz» unseres Tuns zu wenig selbstbewusst gewirkt. Hier wünsche ich mir eine Aufarbeitung und eine veränderte Selbstwahrnehmung.
Was ergibt sich für die Zukunft der Kirche?
COVID war eine Primärerfahrung für uns alle. Und so wenig Politik und Gesellschaft sich künftig derart weitgehende Lockdowns leisten können, so wenig können wir uns eine komplette Verlagerung der Verkündigung und Seelsorge ins Virtuelle leisten. Pandemien werden uns in der Zukunft begleiten. Entsprechend werden wir in einer global vernetzten Welt lernen müssen, mit Pandemien zu leben. Von besonderer Bedeutung ist für mich an dieser Stelle auch die Stärkung des «Priestertums aller Gläubigen». Jeder Christ sollte lernen, in solchen Ausnahmesituationen seelsorglich wirken zu können.
An dieser Stelle kommt das zum Tragen, was man in der ökumenischen Diskussion «Spiritual Formation» nennt. Da mir dieser Aspekt immer schon wichtig war, habe ich den vergangenen Jahren einen Nachfolgekurs entwickelt, bei dem es genau darum geht: geistliche Mündigkeit und Kompetenz in alltagsrelevanten theologischen Fragen. Kurioserweise ist dieser Kurs quasi «pünktlich» während der COVID-Krise im April auf den Markt gekommen. Er trägt den Titel: «Leben im Land des Glaubens – 7 Perspektiven für ein spannendes Christsein». Ich hoffe sehr, dass dieser Glaubenskurs für Christen im deutschsprachigen Raum seinen Weg macht und seinen Teil dazu beiträgt, die Sprachlosigkeit vieler Christen in Krisenzeiten zu überwinden.
Was für Herausforderungen sehen Sie weiterhin für Seelsorge und Diakonie?
Wichtig finde ich, dass wir die Erfahrungen mit neuen Formen der Seelsorge wie z.B. durch virtuelle, Angebote, Skype und Zoom kritisch auswerten und weiter entwickeln gemäss dem Motto: «Prüfet alles, das Beste aber behaltet» (1.Thessalonicher 5,21). Mindestens ebenso wichtig aber erscheint mir der Ansatz, die «Geh-Struktur» in Seelsorge und Verkündigung auszubauen. Wenn die Leute nicht mehr zu uns kommen können, müssen wir sie «heimsuchen».
Interessant finde ich im Neuen Testament zu beobachten, wie oft sich Jesus selbst bei den Leuten eingeladen hat. Zachäus hört in Lukas 19 vermutlich zu seiner Überraschung die Selbsteinladung Jesu: «Heute will ich in Dein Haus einkehren.» Wenn unsere Sozialdiakone, meine KollegInnen und ich während der COVID-Monate die Frage stellten: «Haben Sie etwas Zeit für mich?», fielen uns die Leute aus guten Gründen zwar nicht körperlich um den Hals, aber dankten es uns mit strahlenden Augen. Ich behaupte: Dieses Willkommen-Sein wird uns auch über die Zeit der Pandemie hinaus entgegengebracht werden. Es geht also darum, dass wir Hauptamtliche und Freiwillige in der Kirche unsere «Sozialphobien» ablegen. Und in pietistischen Kreisen würde ich zudem für die Wiederentdeckung des missionarischen Eros werben.
Was beschäftigt Sie jetzt, wo höhere Infektionszahlen uns verunsichern?
Ich denke: Bloss nicht wieder so eine hysterische Panik, bloss nicht wieder ein überhasteter kollektiver Lockdown, bloss nicht wieder der Rückzug in die trügerische Sicherheit des «Social Distancing»! Stattdessen nüchterne Anwendung kluger Schutzkonzepte, angstfreie Integration des Phänomens Pandemie in unser Lebensgefühl und Neuprofilierung des kirchlichen Lebens im Vertrauen auf die unendlich kreative Kraft des Heiligen Geistes.