Rascher schrumpfend will die reformierte Zürcher Landeskirche durch Fusionen strukturell fit werden. Das geistliche Profil der Kirche verschwimmt.
Seit 2011 wird die evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich von Pfr. Michel Müller geleitet. Sein Vorgänger Pfr. Ruedi Reich, 1993 gewählt, hatte sich nach der 1995 abgelehnten Trennungsinitiative für die behutsame Entflechtung der Landeskirche vom Staat eingesetzt. Nach der Ablehnung der Vorlagen (Verfassungsänderung und Kirchengesetz) in der Volksabstimmung 2003 fand das Kirchengesetz in einer zweiten Fassung 2009 Zustimmung.
Das neue Kirchengesetz war neu auch für die anderen öffentlich-rechtlich anerkannten Kirchen gültig. Ihnen (und zwei anerkannten jüdischen Gemeinschaften) gewährte der Kanton, der zuvor 63 Prozent der reformierten Pfarrerlöhne bezahlt hatte, fortan einen jährlichen Beitrag von 50 Millionen Franken für programmierte nicht-kultische Tätigkeiten, zugeteilt gemäss ihren Mitgliederzahlen.
Mehr Autonomie und neue Kirchenordnung
Aufgrund der veränderten staatlichen Rahmenbedingungen wurde die Kirchenordnung von 1967 unter Ruedi Reichs Leitung nach langen Vorbereitungen 2008/2009 total revidiert. Die neue Kirchenordnung bestimmte das Selbstverständnis der Landeskirche, die auf den Kirchgemeinden aufbaut, im Horizont der Kirchengeschichte theologisch eingehender, und definierte vier Handlungsfelder: Gottesdienst und Verkündigung, Diakonie und Seelsorge, Bildung und Spiritualität sowie Gemeindeaufbau und Leitung. In der Abstimmungsbroschüre war eingangs zu lesen: «Das kirchliche Leben findet vor allem in den Kirchgemeinden statt. Es lebt von der Begeisterungskraft, vom Einsatz und von der Fantasie der Menschen, die sich dort einbringen.»
«Kirche ist überall, wo Gottes Wort aufgrund der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments verkündigt und gehört wird» und wo Menschen «Jesus Christus als das Haupt der Gemeinde und als den Herrn und Versöhner der Welt bekennen»: Auf diesem Grund (Art. 1) hält die Kirchenordnung in im neuen Artikel 86 fest, dass Gemeinde durch Gottes Geist gebaut wird. «Gemeindeaufbau schafft Raum für die Gemeinschaft im Feiern, im Hören auf Gott, im Beten und Dienen sowei im Mitwirken der Mitglieder gemäss ihren Begabungen».
Lebenswelten!?
Nach der rechtlichen Neuordnung liess die Landeskirche vom deutschen Sinus-Institut eine Milieustudie erstellen. Die Befragungen mit der vom Marketing inspirierten soziologischen Sichtweise ergaben 2012, dass von zehn Milieus bloss zwei durch die Kirche erreicht werden. Diese reagierte mit dem Motto «näher, vielfältiger, profilierter», um auf diverse Lebenswelten einzugehen. Im Zusammenhang mit den Bemühungen wurden die Gesamtkirchlichen Dienste (GKD) neu geordnet: Eine Abteilung Lebenswelten wurde geschaffen. Ihre Mitarbeitenden betreuen das kirchliche Angebot im Kloster Kappel, machen Mittel- und Hochschularbeit und betreiben das Anfang 2020 lancierte RefLab. In den Kirchgemeinden hat sich dadurch wenig geändert.
2015 wurde die Führung der GKD, zuvor von Kirchenräten nach dem Ressortprinzip wahrgenommen, bei der Neuordnung der Arbeitsweise der Exekutive in der Hand des Kirchenratsschreibers konzentriert. Das theologische Sekretariat wurde bei der Pensionierung von Matthias Krieg 2020 vom Kirchenrat abgeschafft.
2010 wirkten in den GKD laut Jahresbericht 308 Mitarbeitende auf umgerechnet 197 Vollzeitstellen (bei 294 zentral finanzierten Pfarrstellen in Kirchgemeinden), zehn Jahre später waren es 253 Mitarbeitende auf 151 Vollzeitstellen (bei 257 Pfarrstellen in Kirchgemeinden). Der gesamte Personalaufwand der Landeskirche (inkl. Pfarrstellen in Kirchgemeinden) belief sich 2010 auf 85,4 Millionen, 2020 auf 80,6 Millionen.
Kirchgemeinden: Zukunft durch Grösse?
Der neue Kirchenratspräsident Pfr. Michel Müller stellte im Frühjahr 2012 die Weichen für Gemeindefusionen: Ein Postulat zur Förderung kleiner Gemeinden wurde mit einem Papier beantwortet, das auf grosse und Regionalgemeinden (5000-7000 Mitglieder) abzielte. Die Stadtzürcher Reformierten stimmten nach jahrelangen Vorarbeiten 2014 einer Grossfusion grundsätzlich zu.
Nach der Rückweisung eines Berichts 2015 durch die Kirchensynode, die mit einer Motion und 16 Fragen mehr Klarheit forderte, konkretisierte der Kirchenrat 2016 den Strukturprozess «KirchGemeindePlus» (KGP): Aus 174 Kirchgemeinden sollten innert sieben Jahren 39 werden. Leitend dafür sei eine «Strategie zwischen institutioneller Dienstleistungskirche und engagierter Beteiligungskirche». Laut Michel Müller sollten die Kirchgemeinden höchstens so gross sein, «dass sie die Nähe zu den Mitgliedern möglichst direkt und unbürokratisch pflegen können» (Medienmitteilung, Mai 2016). Angesichts des absehbaren Schwunds an Mitgliedern und Ressourcen habe die Kirche jetzt zu handeln.
Gegen Zwangsfusionen
Die mit dem Bericht eröffnete Vernehmlassung ergab, dass die Kirchgemeinden ausserhalb Zürichs mehrheitlich nicht fusionieren wollten.
Die Mehrheit von ihnen sprach sich unter den gegebenen Optionen für Kooperation mittels Zusammenarbeitsvertrag aus (überwiegend nicht als Zwischenschritt zur Fusion verstanden). Die Kirchensynode beschloss, dass Kirchgemeinden im Zusammenschluss unterstützt werden, und wandte sich gegen Zwangsfusionen: Den Stadtzürcher Quartiergemeinden Witikon und Hirzenbach wurde die Eigenständigkeit bei der Stadtzürcher Riesenfusion ermöglicht.
Zunehmende Ernüchterung
Aus 176 Kirchgemeinden 2012 sind durch 18 Fusionen bis Anfang 2022 111 Kirchgemeinden geworden. Somit haben innert eines Jahrzehnts 65 Gemeinden ihre Selbständigkeit aufgegeben, um in einer grösseren Einheit ihren Auftrag wahrzunehmen.
Die Begleitforschung für die Jahre 2018-2020 ergab mit einer Online-Befragung, in der über 1000 Beteiligte sich anonym äusserten, vor allem Ernüchterndes: Infolge KGP wurden Gottesdienste gestrichen; Stress und Zeitdruck nahmen in vielen Fällen nicht ab, die Unklarheit über die eigenen Aufgaben nahm eher zu. (Eine wesentliche Folge von KGP ist die weitgehende Abschaffung des Einzelpfarramts.)
Nur für eine Minderheit gewinnt die Kirche als Arbeitgeberin, wird die Suche nach Behördenmitgliedern einfacher, die Attraktivität der Gemeinde für die Mitglieder erhöht. Bloss ein Viertel gab an, durch Fusion oder Zusammenarbeit seien neue Zielgruppen erreicht worden (genannt wurden v.a. Kinder, Jugendliche und Familien!). Die Begleitforscher empfahlen, KGP möglichst partizipativ weiterzuführen und auch fusionierte Kirchgemeinden zu begleiten.
«Gesamtgesellschaftlich relevant» – durch Freiwillige
Mit grossem Aufwand für die Kirchgemeinden liessen die Zürcher Landeskirchen 2016/17 den Anteil der «gesamtgesellschaftlich relevanten Leistungen» an ihrer Tätigkeit erheben. Eine vom Kanton in Auftrag gegebene umfangreiche Studie der Universität Zürich ergab, dass die Landeskirchen solche Leistungen in höherem Umfang erbringen, als der Staat Beiträge zahlt (den Ausschlag gab, dass Freiwilligenstunden wie Arbeitsstunden von Angestellten monetarisiert wurden).
In der Aussensicht wurden Bildungsangebote deutlich schwächer gewichtet als Seelsorge, Begegnungsangebote und Sozialberatung. Die Mitgliederzahl von Kirchgemeinden wirke sich nicht auf den Anteil gesellschaftlich relevanter Leistungen aus, bemerkten die Forscher. Der Kantonsrat bewilligte in der Folge für die zweite Sechsjahresperiode (2021-2026) erneut jährliche Staatsbeiträge von 50 Millionen Franken an die Tätigkeitsprogramme der fünf öffentlichrechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften.
Pfarrstellenabbau in Landgemeinden
Der Kirchenrat strengte 2017 eine Teilrevision der Kirchenordnung an. Mit einer prinzipiell linearen Regelung (zehn Pfarrstellenprozente für 200 Mitglieder, minimal 50 Prozent; zuvor ein volles Pfarramt ab 1000 Mitgliedern) wurden kleine Gemeinden geschwächt und Pfarrstellen in die mitgliederstarken Gemeinden verschoben. Die Revision wurde 2020 wirksam. Mit der Revision wurde zudem «reformiert.» als Mitgliederzeitung der Landeskirche allen Kirchgemeinden vorgeschrieben und die Grundlage für eine kantonale Mitgliederdatenbank geschaffen.
Der Kirchenrat setzte die Synode unter Zeitdruck, damit die Kirchgemeinde Zürich auf Neujahr 2019 starten konnte; für sie wurden Bestimmungen für ein Kirchgemeindeparlament in die Kirchenordnung aufgenommen.
Zudem schuf die Kirche mit der Teilrevision grössere Gestaltungsfreiheiten bei Taufe, Trauung und Abdankung (gemäss Wünschen der Mitglieder), verankerte das Amt des Kirchgemeindeschreibers in der Kirchenordnung, gab den Kirchgemeinden die Förderung «unterschiedlicher Formen des kirchlichen Lebens» auf (Art. 155) und gewährte dem Kirchenrat höhere Finanzkompetenzen. Die von drei Vierteln der Synodalen bejahte Vorlage wurde erstmals von einem kirchlichen Nein-Komitee bekämpft, welches namentlich die Pfarrstellenzuteilung kritisierte.
Die Teilrevision, welche der Kirchenrat nicht kontradiktorisch diskutiert haben wollte, fand in der Volksabstimmung im September 2018 eine 76-prozentige Zustimmung, bei hohen Nein-Anteilen in mehreren Landbezirken. Das Nein-Komitee sprach von einem «schwarzen Tag für die Kirche im Dorf».
500 Jahre: Wie feiern, was einst prägte, doch lange vergangen ist?
Das Jubiläum 500 Jahre Reformation, lange vorbereitet, wurde am Ursprungsort der reformierten Kirchen ab Januar 2017 zweigleisig gefeiert. Mehr Aufsehen als die zahlreichen Veranstaltungen und Feiern in Kirchgemeinden – und wenige regionale Anlässe wie der Zürcher Oberländer Kirchentag 2018 – erregte das mehrjährige Kulturfestival, veranstaltet vom grosszügig finanzierten kantonalen, kirchlich mitgetragenen Verein, eigenwillig kuratiert von Martin Heller und Barbara Weber. 2018 fand der Film «Zwingli» grossen Anklang. Mit dem «Zwinglijahr» 2019 wurde das Jubiläum weitgehend abgeschlossen.
Spiel der Fraktionen
Die Zürcher Landeskirche ist seit den Positionskämpfen ums Apostolische Glaubensbekenntnis in den 1860-er Jahren theologisch gespalten; damals wurde das Bekenntnis freigegeben. Für die Kirchenpolitik bemüht man sich um Konkordanz, mit proportionaler Verteilung der Sitze unter den vier Fraktionen: Liberale, Synodalverein, Religiös-Soziale, Evangelisch-kirchliche (EKF). Die EKF bildete sich 1991, weil der Synodalverein die Grundsätze der «Positiven» (Bekenntnistreue im 19. Jahrhundert) nicht mehr festhielt.
2007 wurde der EKF mit dem Kandidaten Daniel Reuter ein Sitz im Kirchenrat zugestanden. Die älteren drei Fraktionen stellten je zwei Kirchenräte. Gegenkandidaturen für einen religiös-sozialen Sitz 2015 und fürs Präsidium 2019 blieben erfolglos. Michel Müller bekam für seine dritte Amtszeit noch 67 von 118 Stimmen.
Ziele …
Die Entwicklung der Landeskirche lässt sich auch an den Legislaturzielen des Kirchenrates ablesen. 2008 wurden sie nach den vier Handlungsfeldern gegliedert; das erste Ziel war die Pflege des Gottesdienstes «als Mitte des gemeindlichen Lebens», das zweite die «Förderung von Musik und gemeinsamem Singen im Gottesdienst». «Mission, Evangelisation und Gemeindeaufbau» sollten als Aufgaben der Kirche erkannt werden. 2020 formulierte der Kirchenrat sechs Ziele: Über Gott reden, junge Mitglieder stärken, umweltbewusst handeln, Sorge tragen, digitalen Wandel gestalten, Innovation fördern.
… und Zahlen
Die Zahl der Austritte hat in den letzten Jahren weiter zugenommen – die Reformationsfeierlichkeiten brachten keinerlei Wende. Der Dekadenvergleich zeigt einen Rückgang der Mitglieder von 2000 bis 2010 um 7,1 Prozent, von 2010 bis 2020 um 14 Prozent. Stellten die 509’266 Reformierten an der Schwelle zum neuen Millennium 42,2 Prozent der Zürcher Kantonsbevölkerung, waren mit 406’800 Mitgliedern Ende 2020 noch 26,2 Prozent der im Kanton lebenden Menschen reformiert.
Die Zahl der Taufen ging in diesen zwanzig Jahren um 68,4 Prozent zurück, jene der Konfirmationen um 48,4 Prozent, jene der Trauungen um 78,3 Prozent, jene der Bestattungen um 22,8 Prozent (grosser Einbruch bei Taufen und Trauungen infolge der Pandemie 2020).
Kirchenrat will die «Trauung für alle»
Nach dem Ja der Abgeordneten des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds (SEK) zur zivilrechtlichen Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare im November 2019 machte Kirchenratspräsident Michel Müller deutlich, dass der Kirchenrat jegliche Diskriminierung von Nicht-Heterosexuellen in der Kirche unterbinden und die kirchliche «Trauung für alle» einführen will. Laut dem SEK-Beschluss dürfen Pfarrpersonen dazu nicht verpflichtet werden.
Klimawandel, Grenzverletzungen, Pandemie
Der Klimawandel führte zu verstärkten Bestrebungen, die CO2-Emissionen von Landeskirche und Kirchgemeinden zu senken. Im Herbst 2020 verabschiedete der Kirchenrat einen Verhaltenskodex für Mitarbeitende, um die Prävention von Grenzverletzungen zu verstärken. In der Synode wurden u.a. seine die Seelsorge einengenden Vorschriften kritisiert. Das Vorhaben, die Bezirkskirchenpflegen abzuschaffen, vertagte der Kirchenrat nach klar negativen Stellungnahmen in der Vernehmlassung; an höheren Hürden für Freiwillige hielt er fest.
Die Corona-Pandemie hat die geringere Relevanz der Landeskirchen für den säkularen Staat, für Wirtschaft und Gesellschaft verstärkt ins Bewusstsein gerückt. Die Situation der Kirchen wurde in den Medien kaum thematisiert. Das gottesdienstliche Leben, Gemeinschaft und Diakonie wurden teils stark eingeschränkt. Seit dem Lockdown im Frühjahr 2020 setzten die Kirchgemeinden verstärkt auf digitale Formate, mit zweischneidigen Folgen.
Landeskirche quo vadis?
Der Glaube an die Vorteile grosser Einheiten und das Streben nach Professionalisierung und Zentralisierung kennzeichnen das Handeln des Kirchenrates in seiner aktuellen Zusammensetzung. Trotz fragwürdigen und bedenklichen Folgen für die Landeskirche stimmt die Kirchensynode mit den dominanten Fraktionen Synodalverein und religiös-soziale Fraktion den diesbezüglichen Vorlagen des Kirchenrats zu; die Gemeindefusionen wurden sämtlich genehmigt. Die Mehrheit würgte im November 2021 eine Aussprache ab, in der kirchenratskritische Spitzen vorgebracht wurden.
In der Sichtweise der EKF und der mit ihr verbundenen EKVZ fährt die Landeskirche mit stärkerer Anpassung an den urbanen Mainstream – bei stärker fallendem Anteil an der Kantonsbevölkerung – keinen nachhaltigen Kurs.
Der Fokus muss auf der Förderung der Kirchgemeinden vor Ort liegen. Sie sollen auf Herausforderungen gemäss ihrem evangelischen Auftrag reagieren und sich eigenständig entwickeln. Die Fähigkeiten von Kirchgemeinden – auch kleineren vitalen Gemeinden auf dem Land – gilt es, durchgehend zu stärken: durch Beschränkung gesamtkirchlicher Ausgaben, durch Förderung der Beteiligung von Freiwilligen, durch Ermutigung zur integralen Verkündigung der Bibel, durch substantielle evangelische Religionspädagogik und die Förderung kreativer Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, durch Erhalt und Pflege übersichtlicher Strukturen mit kurzen Entscheidwegen, durch gehaltvolle theologische Pluralität und entsprechende Streitkultur und – in alledem – mit einem Ja zur Vielfalt von handlungsfähigen grossen und kleinen Gemeinden in der Gesamtkirche.