Auf Mündigkeit und Freiheit setzen die Reformierten. Welche (Landes-)Kirche ist damit möglich? Im 21. Jahrhundert droht in der Vielfalt der Abbruch. Dies scheint die neue Wanderausstellung zum Reformiertsein nicht zu kümmern. Auch deswegen ist sie sehenswert.

Zum Bettag 1915 erschien der erste Zürcher Kirchenbote. Seit 2008 wird das Blatt unter dem Titel „reformiert.“ in Kooperation mit Redaktionen im Aargau, Bern und Graubünden herausgegeben. Den 100. Geburtstag begehen die Zürcher mit Feiern und einer Wanderausstellung. Sie wurde am 18. Januar mit einem Gottesdienst in der Kirche Zürich Unterstrass eröffnet. Zu ihrem Reformiert-Sein äussern sich auf ruhig gestalteten Panels zwölf Personen. Im Gottesdienst bezeichnete der Zürcher Redaktionsleiter von reformiert., Felix Reich, die Ausstellung als Gesprächsangebot. In der Kirche sei Raum für verschiedene Vorstellungen. Sie sollten diskutiert werden.

„Räume öffnen“
Die zwölf Personen äussern tatsächlich recht diverse Ansichten zum „reformierten Glauben“: Die Künstlerin erfährt Heiliges in allen Religionen, die TV-Frau schätzt die Kirche als „Ort der Ermutigung, keine Angstmacherei“. Für den ex-Chefredaktor der NZZ haben sich die christlichen Werte in der Gesellschaft durchgesetzt; wenn die Reformierten nicht mehr staatstragend seien, sei das auch als Erfolg zu werten. Die Ständerätin, einst Sonntagschullehrerin, erwähnt, dass im Hauskreis „Suche und Zweifel Platz“ hatten. Die Kirchgemeindepräsidentin freut sich, Menschen zusammenzubringen und Räume zu öffnen.

Der Zivildienstler will sich auseinandersetzen mit der Kirche – und hilft im Kids-Treff mit. Für den Redaktionsleiter von reformiert. ist die Kirche Heimat und Ort der Hoffnung, des Feierns; was er empfangen hat, will er seinen Kindern weitergeben. „Die Kirche lebt, wo Menschen zusammen Neues versuchen wollen“, sagt die Streetdance-Leiterin. Die Pfarrerin lernte von klein auf, dass sie „immer und überall selber zu Gott beten kann“. Reformierte könnten einen mündigen Glauben leben. Zugleich brauche Glaube Gemeinschaft und nähre sich vom Feiern. Miteinander bilden die zwölf Statements reformierte Vielfalt prägnant ab.

Wo ist der Kern?
Reformierte müssen heute mehr wissen, als dass sie nicht katholisch oder freikirchlich sind. Dies unterstrich im Gottesdienst der Unterstrasser Pfarrer Roland Vuillemin. Doch was verbindet sie positiv? Vielleicht dachten einige der zwölf Befragten, ein anderer beschreibe die Beziehung des Christen zum Stifter der Religion – so tut es keiner.

Die Verschiedenheit der persönlichen Vorstellungen regt zum Nachdenken an (jeder Besucher wird sich da oder dort erkennen), verstärkt aber die Frage, was den bestimmenden Kern des Reformiert-Seins ausmacht. Gibt es diese Mitte überhaupt noch, 150 Jahre nachdem die Theologen das Heft in die Hand nahmen, die Glauben und Kirche-Sein zeitgemäss ummodeln wollten? Kann heute eine Auffassung Vorrang beanspruchen – oder sind sie alle gleichwertig?

Spaltpilz Reformation
Die Schöpfer der Ausstellung haben auch eine Webseite mit Zusatzinfos erstellt. Die Reformatoren hätten mit der Erneuerungsbewegung, die sie anstiessen, „das Christentum in die heute bekannten Konfessionen“ gespalten, liest man da.

Was Vuillemin in Unterstrass als ungenügend bezeichnete – reformiert als nicht-katholisch zu bestimmen –, geschieht auf der Homepage, welche vier Jahreszahlen zur Schweizer Reformation bietet und sie als Kampf gegen Katholisches darstellt. Von der Rechtfertigung aus dem Glauben, der Gestaltung weltlicher Lebensformen aus dem Evangelium, dem Impuls zur Volksbildung und anderen Hauptanliegen der Reformation ist nichts zu lesen. So bleibt unklar, worin ihre erneuernde Kraft bestand und wie sie den Grund legte zur europäischen Dynamik für Freiheit und Gleichheit in der Moderne.

Kirche der Selbstdenker
Pragmatisch und nüchtern, doch einseitig (ohne Bezug zur Zürcher Kirchenordnung) beschreiben die Ausstellungsmacher online, wofür die reformierte Kirche einsteht. Etwa „für Offenheit, Dialog und Vielfalt, für ein undogmatisches, bekenntnisfreies Glaubensangebot”. Heisst dies: Jeder kann in Aufnahme der christlichen Überlieferung glauben, was er will – Hauptsache, er lässt den andern glauben, was der will? Kaum überboten werden kann die reformierte „Wertschätzung des Individuums”. (Die deutsche EKD hat eine Vorwärtsstrategie, indem sie sich als Kirche der Freiheit bezeichnet – südlich des Rheins scheint man darauf verzichten zu können.)

Tradition? Auftrag?
Wohl um die Modernität der Schweizer Reformierten zu unterstreichen, heisst es, die reformierte Kirche sehe sich “nicht als Traditionshüterin”. Als was denn? “Sie sucht nach der Bedeutung der ‘Frohen Botschaft’ Jesu für die Gegenwart” (Anführungszeichen um die beiden Worte unterstreichen das Unzeitgemässe des Anspruchs, froh zu machen). Der Text endet mit dem altbekannten Refrain vom selbständigen Denken der Reformierten, welches absolut gesetzt wird.

In einer zunehmend polarisierten, von Unmut durchwehten Gesellschaft wird das nicht genügen. Den Weg weist in der Ausstellung ein Zitat von Hans Heinrich Brunner, der die Zürcher Redaktion 1960-1983 leitete. Er stand dafür ein, dass die Kirche “ihren ganz bestimmten Auftrag an der Gesellschaft in ihrer Form von Gemeinschaft ernst nimmt und umsetzt!”

Webseite zur Ausstellung
Orte und Zeiten der Zürcher Wanderausstellung

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