Der Theologie muss es im 21. Jahrhundert um Gott gehen – gerade wenn in der Öffentlichkeit Spiritualität im Fokus steht. Christen bleiben relevant, wenn sie von Gott reden, betont der Theologe Ingolf Dalferth. In evangelischen Kirchen vermisst er ein „gemeinsames, verbindendes Reden von Gott“. Der Professor, der seit 1995 an der Universität Zürich Dogmatik und Religionsphilosophie gelehrt hat, ist überzeugt, dass die Theologie mit dem Thema Religion nicht weiterkommt – schon deshalb, weil sie „gebunden ist an die abflachende Kurve derer, die sich für Religion interessieren“.
Spiritualität: individuell und experimentell
Was bedeutet die aktuelle Offenheit für Spirituelles? Ingolf Dalferth sieht darin eine Abkehr „von institutionalisierter Religion und Kirche und eine Betonung des Individuellen, Expressiven und Experimentellen“. Dass Spiritualität auch gemeinschaftlich gelebt werden könne, werde nicht ausgeschlossen, „aber es muss das Richtige für mich sein, meinen Erfahrungen entsprechen, mir Raum zum Ausdruck meiner selbst geben“. Dies führt nach Dalferths Ansicht zu einer „Kultur der Expressivität und Authentizität, in der jeder, sein Innerstes nach aussen kehrend, sein Selbst zur Geltung bringen will. Religion und Spiritualität sind eine Weise, dies zu tun, ein quasi-religiös missionierender Atheismus oder eine desinteressierte Gleichgültigkeit allem Religiösen gegenüber sind eine andere.“
Wenn die Kriterien fehlen
Zwar wird öffentlich wieder mehr über Religion debattiert als am Ende des 20. Jahrhunderts, aber dies bedeutet für die Kirchen nicht Rückenwind. Ein Grund: Wenn von Gott geredet wird, „füllt jeder es mit einem anderen Gehalt“. Dem Theologen gibt zu denken, dass kaum noch inhaltlich darüber diskutiert wird, was eine religiöse Position oder Praxis einer anderen gegenüber voraus hat. „Uns fehlen die Kriterien, zwischen besseren und schlechteren religiösen Überzeugungen zu unterscheiden, weil wir meinen, uns da nicht einmischen zu dürfen oder zu sollen. Aber religiöse Überzeugungen sind nicht immun gegenüber Kritik oder sollten es jedenfalls nicht sein.“
Woher die Theologie Profil hat
Die Theologie verliert laut Dalferth ihren Grundbezugspunkt, wenn sie das Thema Gott meidet oder auf etwas anderes, etwa Religion, fokussiert. Sie gibt auch ihre Stellung unter den Wissenschaften preis: „Weil das Gottesthema anders ist als alle anderen Themen der Universität, unterscheidet sich die Theologie von allen anderen Fächern. Sie wird nie richtig verstanden, wenn man sie bloss als eine Wissenschaft unter andern versteht.“ Wirklich eigenständig sei Theologie nur da, wo sie sich systematisch an der Gottesfrage orientiere: „Mit Gott kommt kein Thema neben anderen in den Blick, sondern alles Wirkliche und Mögliche in spezifischer Weise: als Schöpfung des Schöpfers, die nicht so ist, wie sie sein könnte, und deshalb anders (neu, besser, freier, gerechter) werden sollte.“
Theologie und Religionswissenschaft in Zürich
Im Interview kritisiert Ingolf Dalferth die Gleichstellung der Religionswissenschaft mit der Theologie an der Zürcher Fakultät als institutionellen Fehler. Die Theologie selbst habe keinen Anker mehr (bis 1998 Anbindung an die reformierte Zürcher Landeskirche). Dies ist für den Professor umso bedenklicher, als die mit ihr nun gleichrangige Religionswissenschaft keine bestimmte Ausrichtung hat: „Es gibt keine klare Definition ihres Arbeits- und Lehrgebiets, keine klaren Kriterien, was dazu gehört und was nicht.“ Am Ende seiner Lehrtätigkeit in Zürich gibt Dalferth zu bedenken: „Wenn die Fakultät nicht mehr bestimmt ist als Ort der Lehre und Forschung für christliche Theologie, wenn die Theologie nicht mehr in einer bestimmten Weise von Gott und anderen Themen redet, wird sie undifferenziert und verliert ihr Profil.“
Ingolf Dalferth zur Zürcher Kirchenreform
Das ganze, sechsteilige Interview mit Äusserungen zur Entwicklung der Theologie, zu Gottvertrauen und zur Polarisierung säkularer Gesellschaften
Ingolf U. Dalferth hat seit 1995 als Ordentlicher Professor am Lehrstuhl für Systematische Theologie, Symbolik und Religionsphilosophie der Universität Zürich gewirkt.