Grössere Kirchgemeinden können eher auf die Bedürfnisse und Erwartungen der Mitglieder eingehen, sagt Kirchenratspräsident Michel Müller. „Wir wollen Vielfalt und Teamarbeit.“ Im EKVZ-Interview erläutert er das Projekt KirchGemeindePlus und wie es dazu beitragen soll, den Kernauftrag der Kirche freizulegen.
EKVZ: Was sind die Hauptgründe für KirchGemeindePlus?
Michel Müller: Wir reagieren – und das ist dringend nötig – auf den anhaltenden Rückgang an Mitgliedern und an Mittel. Der Trend ist derzeit nicht umkehrbar. Wir müssen etwas tun. Unser Projekt KirchGemeindePlus (KGP) ist aber mehr als eine Reaktion: Der Kirchenrat schlägt für die Struktur der Landeskirche einen grossen Schritt vor, damit Kirchgemeinden nicht nur den Rückgang aufhalten können, sondern auch in der Lage sind, wieder vermehrt vielseitig und flexibel auf die Bedürfnisse der Mitglieder einzugehen.
Die Sinus-Studie hat uns gezeigt, dass es viele Erwartungen an die Kirche gibt, und zu viele bleiben offen. Die Kirchgemeinden sollen in der Lage sein, diesen Erwartungen besser gerecht zu werden. Unser Projekt zielt auf eine Flexibilisierung und Dynamisierung des Lebens der Kirchgemeinde.
Der Eindruck ist entstanden, dass der Kirchenrat das Heil in grösseren Kirchgemeinden sieht, da nur sie wirksame Diakonie betreiben, eine Vielfalt von Gottesdiensten anbieten und angemessen Bildung vermitteln könnten…
Das Heil sieht der Kirchenrat nicht in grösseren Kirchgemeinden – das Heil schenkt uns Jesus Christus. Doch lebendige Kirchgemeinden können das Evangelium von der Liebe Gottes besser bezeugen. Das Evangelium bezeugt die Liebe Gottes; er hat die Menschen gern. Zum Zeugnis gehört folglich auch das Eingehen auf Lebenswelten der Menschen, auf ihre Bedürfnisse. Kleinere Kirchgemeinden haben weniger Potenzial dazu.
Nun gibt es Gemeinden, die ausgezeichnet arbeiten und im Rahmen ihrer Möglichkeiten sehr viel erreichen. Anderseits schöpfen grössere Gemeinden ihr Potenzial oft nicht aus. Dem Kirchenrat geht es nicht darum, die Gemeinden zu bewerten oder zu beurteilen. Das können wir nicht und es ist nicht unsere Aufgabe – die Landeskirche baut auf den Kirchgemeinden auf und nicht umgekehrt. Wir möchten einfach das Potenzial der Kirchgemeinden steigern. Und da kann man sagen: Grössere Gemeinden haben mehr Mittel, mehr Ansprechpersonen für die verschiedenen Lebenssituationen, eher differenzierte Angebote für Generationen und Milieus. Sie haben auch mehr Möglichkeiten, in den Handlungsfeldern aktiv zu sein.
Zu reden gibt die Zahl von 5000 Gemeindegliedern. Welche Hoffnung verbinden Sie damit?
Wir regen an, von der bisherigen Grösse wegzukommen und grösser zu denken. Darum sagen wir auch nicht 5000, sondern 5000-7000. Wir pendeln damit um die 6000 herum. Bei 6000 Mitgliedern hat eine Gemeinde mehr als zwei Pfarrstellen zugut. Es geht uns unter anderem darum, die Dualität von zwei Polen (früher oft ein theologisch liberaler und ein ‚positiver‘ Pfarrer) zu überwinden und zu einem Mehr-Eck zu gelangen. Wir wollen Vielfalt und Teamarbeit. 5000-7000 Mitglieder bedeuten, dass ein bis zwei Leute in der Sozialdiakonie angestellt werden können, auch mehr Katechetinnen oder Musiker. Wir streben die kritische Grösse an, die eine einigermassen professionelle und kostengünstige Verwaltung ermöglicht. Das sind empfohlene und Erfahrungs-Werte.
Woher haben Sie diese Werte? Sind grössere Gemeinden lebendiger?
Wir reden nicht vom Leben, sondern vom Potenzial. Man kann Quervergleiche machen. Grosse Gemeinden haben nicht weniger Austritte, auch nicht unbedingt den prozentual besseren Gottesdienstbesuch – aber das Potenzial ist grösser. Wir zielen auf Vielfalt in der Gemeinde – nicht dass zehn Gemeinden je ihr Profil haben, sondern dass grössere Gemeinden Gemeinschaft gestalten. Das wird uns auch vom Glauben nahegelegt: dass wir uns in der Vielfalt von Lebensformen und Ausdruckweisen zusammenfinden.
Wenn Stadtgemeinden bisher fünfmal dasselbe gemacht haben, haben sie ihr Potenzial nicht genutzt. Für mich war es immer ein Rätsel, warum in Gemeinden von 7000 oder 8000 Mitgliedern die Leute in Pfarrkreise eingeteilt, konfirmiert und entsprechend beerdigt werden. Das entspricht den Lebenswelten der Menschen schon lange nicht mehr. Die Menschen wollen doch zum Pfarrer ihres Vertrauens gehen. Es gilt, die Chancen einer grösseren Gemeinde zu nutzen, statt sie aufzufächern und hoheitlich zu bestimmen.
Regionalkonferenzen brachten im April Gemeinde-Verantwortliche ins Gespräch.
Sie schreiben in der Mitarbeiterzeitschrift ‚notabene‘, dass es darum geht, den Kernauftrag freizulegen. Wie geschieht das?
Derzeit sind wir extrem auf Strukturen fixiert. Jede Kirchgemeinde denkt über Liegenschaften und Personal nach. Doch die Kirchgemeinde ist wie alles ein Mittel zum Zweck, das Evangelium zu verkündigen und zu leben. Konzentrieren wir uns auf diesen Kernauftrag, können wir präziser fragen, inwiefern die Strukturen der Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat dienen. Dann sehen wir zwar, dass eine politische Gemeindegrenze durchaus einen Sinn haben kann in Bezug auf die Verkündigung des Evangeliums, weil sie sich an der politischen Lebensform der Menschen ausrichtet. Aber nur noch für eine Minderheit bringt der Wohnsitz Wesentliches zum Ausdruck, stiftet er Identität.
Das lässt uns fragen, wie wir den Menschen näher kommen können mit dem Evangelium – auch über die Grenzen der politischen Gemeinde hinaus. Die Verkündigung muss in verschiedenen Arbeitsweisen und Arbeitsformen stattfinden. Die Vernetzung mit politischen Behörden und der Schule am Ort ist ein Vorteil, heute ist sie aber in vielem auch eine Erschwernis. Jedenfalls ist sie nur ein Mittel, den Auftrag zu erfüllen. Darum glaube ich, wenn wir uns auf den Auftrag konzentrieren, legt das die Perspektive frei, sich durchaus im reformierten Sinn von der konkreten Gestalt der Kirche zu lösen und sie noch einmal anders zu denken.
Wie legen wir den Kernauftrag frei?
Nicht anders, als wir es immer machen: Wir sammeln uns in der Verkündigung, im Gottesdienst. Am Anfang einer Kirchenpflegesitzung besinnt man sich – es wäre schön, mit einem Bibelwort und nicht mit einer der tausend schönen Geschichten, die es auch noch gibt. Dort zeigt sich, wenn wir dem Kern unserer Botschaft nicht mehr zutrauen, uns etwas zu geben für unsere Arbeit, dann verzetteln wir uns in allen möglichen Themen.
Im neuen Papier des Verbands der Stadtzürcher Kirchgemeinden, der sich reformieren will, wird die gesamte Tätigkeit in den Handlungsfeldern quantifiziert. Eine Falle?
Auch ökonomische und soziologische Instrumente haben einen Erkenntniswert. Wenn klar wird, dass wir viel in den Erhalt von Liegenschaften stecken, folgt daraus die Frage, inwiefern das unser Auftrag ist. Die Antwort könnte sein, dass auch der Erhalt von Liegenschaften – richtig durchgeführt – dem Auftrag dient. Man kann daher nicht den Aufwand für Liegenschaften gegen den für Diakonie stellen. Diakonie kann ebenso den Auftrag verfehlen, wenn sie den Menschen nicht das gibt, was sie wirklich brauchen, wenn sie nicht Liebe aus dem Glauben ist. Eine gut erhaltene, schöne, gastfreundliche Kirche kann ein steinerner Zeuge fürs Evangelium sein. Kurz: Zahlen helfen, Fragen zu stellen und Entscheidungen zu fällen – aber sie geben nicht schon Antworten.
Sie legen Wert darauf, dass auch in der Strukturreform die Sendung der Kirche zum Ausdruck kommt.
Die vier Handlungsfelder der Kirche (Gottesdienst und Verkündigung, Diakonie und Seelsorge, Bildung und Spiritualität, Leitung und Gemeindeaufbau) lassen sich auf die Sendung der Kirche zurückführen und bringen sie zum Ausdruck. In Gottesdiensten und Abdankungen geschieht dies explizit, in der Diakonie in der Haltung, im Unterricht werden anhand biblischer Geschichten christliche Werte erörtert. In allen Handlungsfeldern ist es möglich, von der Sendung her zu arbeiten. Wir machen das – aber jeder und jede Mitarbeitende muss sich immer wieder fragen, was sein Auftrag ist.
In der Kirchensynode.
Es ist grundsätzlich eine Aufgabe aller überörtlichen und Leitungs-Organe, Kirche als Ganzes im Blick zu haben. Kirche ist örtlich und zeitlich nicht nur auf einen Ort bezogen: sie ist weltweit und auf die Vergangenheit und Zukunft bezogen. Will die Kirchgemeinde ihre Zukunft schaffen, muss sie sich verbinden mit andern und letztlich mit der weltweiten Kirche vernetzen. Man wird nicht in eine Kirchgemeinde getauft, sondern in die Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen. Vor allem: Kirchgemeinde lebt nicht aus sich selbst, sondern von der Kirche, die aus der Tiefe der Geschichte wächst.
Nur erleben wir Wurzeln nicht mehr als relevant, weil uns der technologische und soziale Wandel herumwirbelt.
Das 500-Jahr-Jubiläum der Reformation ist da eine Chance, in die Geschichte zu gehen und daraus Anhaltspunkte für unser Leben zu beziehen. Es zeigt uns dann auch, dass unsere Wurzeln noch weiter zurückreichen.
Kirche ist mehr als Kirchgemeinde – aber wenn die Gemeinde am Ort serbelt und unansehnlich wird, schwächelt auch das Verständnis von Kirche. Was die Menschen von Kirche denken, hängt an ihrer Wahrnehmung von Gemeinde.
Da kommt das Gleichnis vom Leib und seinen Gliedern in den Blick, das uns Paulus gegeben hat. Es geht nicht nur auf die einzelne Gemeinde, sondern meint auch die Kirche. Paulus lebte das: Er verknüpfte die einzelnen Gemeinden miteinander und überbrachte eine Kollekte der reichen an die armen Gemeinden. Der Leib Christi ist auch ein Leib von Gemeinden und von Kirchen. Schwächelnde Gemeinden sollen Hilfe bekommen, kränkelnde Kantonalkirchen bedürfen der Stützung. Im Reformationsjubiläum werden wir auch sehen, was von Zürich ausgegangen ist – und was zurückkommt. Die Frage ist allerdings, ob wir dafür offen sind oder ob wir uns selbst genügen. Gemeinden, die sich selbst genügen, gleichen dem Jungfreisinnigen, der sagt: Ich genüge mir selbst – ich brauche keine Solidarität. Das Zeugnis von Gemeinden und Kirchen ist dann fragwürdig, wenn wir einander nicht tragen – nicht dann, wenn einige schwächeln.
Sie betonen, dass Kirche Gemeinschaft ist. Vor Jahren propagierten die Reformierten Medien den Slogan „Selber denken – die Reformierten“. Ist es Zeit ihn zu ergänzen und das gemeinsame Glauben und Handeln zu betonen?
Der Slogan ist zu ergänzen. Wir Reformierten müssen allerdings schon selber glauben und handeln. Was bei all den Selbst-Impulsen aber verloren ging, ist der gemeinsame Resonanzraum. Das Selber-Denken und -Glauben wird ja gleich irrelevant (auch für mich selbst), wenn ich nicht mit anderen austausche! Ich habe dann meine Meinung – aber niemand interessiert sich dafür. Ich poste sie auf Facebook und versuche ihr Resonanz zu verschaffen, doch wenn alle das tun, ist es irrelevant, so dass schliesslich einige, um aufzufallen, ausfällig, extrem oder gewalttätig werden…
Kirche noch einmal anders denken: Pfr. Michel Müller an der Regionalkonferenz in Winterthur, 11. April 2013.
Reformiert sein heute heisst, das Selber-Denken in einen Resonanzraum hineinzubringen: Selber denken und miteinander darüber sprechen, selber handeln und es gegenseitig verantworten. Als Reformierte schreiben wir einander nichts vor; aber das Gegenteil – dass wir einander gleichgültig sind – kann es nicht sein.
Wie empfinden Sie in der Strukturreform die Spannung zwischen der Aufgabe, aktive Gemeindeglieder bei der Stange zu halten und zugleich die Kirche auf andere, ihr fernstehende Menschen hin zu öffnen?
Als Gemeindepfarrer habe ich diese Spannung natürlich hautnah erlebt. Die Chance liegt darin, dass ich Verständnis haben kann für verschiedene Lebenswelten und Lebensformen. Dabei kann ich bei dem einen, dem ich begegne, das Verständnis für den anderen wecken. Als Mitarbeitende der Kirche haben wir Brücken zu bauen und gegenseitig Verständnis zu wecken.
Dazu kommt der inhaltliche Aspekt: Gehe ich ganz auf Menschen ein, überwinde ich allein damit die Spannung noch nicht – ich muss ihnen auch mit dem Glauben begegnen. Vom Glauben her bringe ich mein Gegenüber dazu, von sich selbst abzusehen und auf andere einzugehen. Die Haltung ‚Kirche muss das machen, was mir gefällt‘ – diese Haltung ist nicht vom Glauben her motiviert. Glaube fragt auch immer nach dem Willen Gottes. Ich öffne mich einem anderen Anspruch, der mir in einem anderen Menschen, einer anderen Lebenswelt entgegenkommt. Kirche braucht neben der personalen Brücke – dem Mitarbeiter, der den Kontakt aufnimmt – auch die inhaltliche, das Verbindende des Glaubens.
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