Wohin steuert die Zürcher Landeskirche mit KirchGemeindePlus? Was ist geschehen und was steht an? Darüber sprach die EKVZ mit Pfr. Martin Peier, dem Beauftragten des Kirchenrats für KirchGemeindePlus, und Pfr. Dominique von Orelli, nun Kirchenpfleger in Winterthur.

Laut Martin Peier kommen die eigentlichen Themen nach und nach auf den Tisch. Er verweist auf die Konferenzen der Landeskirche und zahlreiche lokale Gespräche. Mit dem strukturellen Prozess sind auch geistliche Fragen aufgeworfen, welche mehr Zeit brauchen. „KGPlus ist nicht vor allem ein Fusionsprozess, sondern ein Reformprozess. Es geht doch darum, uns, die reformierte Kirche, fürs 21. Jahrhundert nochmals neu zu denken.“

Dominique von Orelli fehlt bisher in den Verlautbarungen – zuletzt an der Kirchenpflegetagung in Kappel – der geistliche Aspekt, „der Gedanke, dass wir uns von Heiligen Geist eine Vision geben lassen wollen“. Es werde viel geplant und von Strukturen gesprochen. Laut Martin Peier sind die Vorgaben des Kirchenrates nötig: „Was würde sich in dem Prozess bewegen, wenn es diese Rahmenbedingungen nicht gäbe?“

Zugleich betont er, die Kirchgemeinden dürften die Reform nicht an Kirchenrat und Kirchensynode delegieren: „KGPlus ist der Prozess der gesamten Kirche. Es gibt nur das, was gemeinsam entwickelt wird.“ Der Reformprozess sei nicht eine Sache von zwei, drei Jahren, betont Peier. „Wir würden es uns zu leicht machen, wenn wir behaupteten, die Kirche von morgen schon zu kennen. Bestimmt gilt es den Leib Christi zu stärken. Christenmenschen gehören zusammen.“

Lesen Sie hier das Gespräch mit Martin Peier und Dominique von Orelli.

„Wir haben uns zu verstehen als Leib Christi, dem die Gemeinden gerade in ihrer Vielfalt dienen“: Martin Peier (rechts) im EKVZ-Gespräch mit Dominique von Orelli.

EKVZ: Was ist der Stand von KirchGemeindePlus (KGPlus) nach den Kirchenpflegetagungen und Diakonen- und Pfarrkonferenzen des ersten Halbjahres 2014?

Martin Peier: KGPlus ist ein Prozess. Da ist immer etwas in Bewegung. So ist eher nach dem Fluss als dem Stand zu fragen…

EKVZ: Wo fliesst es?

MP: Nach den Konferenzen kommen die eigentlichen Themen nach und nach auf den Tisch. KGPlus hat dazu beigetragen, dass die Pfarrschaft des Kantons Zürich zum erstenmal über Bezirksgrenzen und unterschiedliche Theologien hinweg zusammenkommt, um gemeinsam Themen theologisch zu diskutieren, zum Beispiel Seelsorge. Sie muss heute überdacht werden. Ich kann einen Besuch nicht mehr machen wie früher, da viele Leute arbeiten. Mit KGPlus erkennen wir, was sich verändert hat. Und nun fragen wir, wie inhaltlich zu reagieren ist.

EKVZ: Dies könnte auch ohne KGPlus geschehen.

MP: Ja. Tatsache ist, dass KGPlus dazu beitragen konnte. Das freut mich. Zweitens haben viele Kirchgemeinden das Gespräch aufgenommen, weil sie erkennen, dass sie nicht mehr alles allein tun können. Dass sie miteinander mehr erreichen können, etwa in der Jugend- oder Seniorenarbeit. Gespräche haben begonnen zwischen Gemeinden, die merken, dass sie die Ressourcen besser einsetzen könnten. Im ganzen Kanton kam viel in Gang, nach einem Reformstau, wie ich höre.

EKVZ: Im Frühjahr 2013 regten Sie ImpulsDialoge in den Kirchgemeinden an. In der Öffentlichkeit fand dann aber wenig statt. Warum?

MP: Wir wollten eigentlich öffentliche Hearings mit den Mitgliedern in der Kirchgemeinde durchführen. Doch die Behörden mussten sich erst einmal selbst mit den Fragen befassen. So fanden ImpulsDialoge anderer Art statt. In einem Dorf trafen sich zwei Dutzend Präsidien von Politik, Schule, Kirche und Vereinen, die alle mit denselben Fragen befasst sind (Freiwillige, Vernetzung). ImpulsDialoge wie geplant gab es wohl gegen 20, insgesamt fanden aber über 100 Gespräche statt, die zu klären halfen, was der Prozess für die Gemeinde und die Region bedeuten kann.

Kleine politische Gemeinden stehen auch unter Fusionsdruck. Dort werden Kirchgemeinden wahrgenommen als die, die Inhalte beisteuern können. Mit den politischen und Schulgemeinden können sie Partner sein. Es geht um zukunftsfähige Strukturen und um Klärung, was auf welcher Ebene geschehen soll: im Dorf bzw. Quartier, in der Region, im Bezirk oder Kanton.

EKVZ: So laufen politische und kirchliche Fusionsprozesse parallel?

MP: KGPlus ist nicht vor allem ein Fusionsprozess, sondern ein Reformprozess. Es geht doch darum, uns, die reformierte Kirche, fürs 21. Jahrhundert nochmals neu zu denken.

Dominique von Orelli: Bei mir kommt KGPlus bisher an als Reorganisation. Es wird geplant und organisiert, unter Zeit- und Spardruck. Die Zielgrösse von 5000 Mitglieder pro Kirchgemeinde steht noch im Raum. Wird das Pferd am Schwanz aufgezäumt? Man beginnt zu organisieren, wenn es in der Kirche nicht weiter gehen kann wie bisher. Seit ich Pfarrer bin, geht das so. Man fragte: Was können wir machen, dass mehr Leute in die Kirche kommen? Alles Machen nützt dann nicht viel.

Die Kirche ist eine geistliche Grösse, also sollte der Prozess ein geistlicher sein. Mir fehlt in allen Verlautbarungen – zuletzt an der Kirchenpflegetagung in Kappel – der geistliche Aspekt, die Vision. Der Gedanke, dass wir uns von Heiligen Geist eine Vision geben lassen wollen. Es wird viel geplant und von Strukturen gesprochen. Für mich ist es zu wenig eine geistliche Angelegenheit.

EKVZ: Der Kirchenrat spricht von Inhalten, er strebt „reformierte Selbstvergewisserung“ an. Bei den Kirchenpflegen kommt jedoch die Erwartung an, dass sie etwas machen, etwas ändern sollen.

MP: Wir stehen am Anfang des Prozesses. An einer der Pfarrkonferenzen im Frühjahr kam die Frage auf, wann theologisch diskutiert werde. Darauf sage ich: Wohlan, tut es! Worauf wartet ihr? Wer ist denn Kirche? Ihr seid gefragt. Ich finde auch, dass zu viel von Strukturen gesprochen wird. In den Gemeinden kommt man immer wieder auf diese Ebene, aber als Reformierte des Kantons Zürich haben wir alle Möglichkeiten, geistlich-theologische Fragen zu erörtern. Wir haben das Priestertum aller Gläubigen: Die Gemeinden einer Region können zusammenkommen und selbst bestimmen, worüber sie nachdenken und sprechen wollen, was sie feiern oder in der Stille bewegen wollen. Dies wird nicht verordnet; es kann von den Gemeinden selbst gewählt werden. 180 Gemeinden im Kanton: worauf wartet ihr? Der Prozess gehört euch.

DvO: Das höre ich so zum ersten Mal.

MP: Das bedaure ich. So rede ich in den Kirchgemeinden, so steht es auf der Website.

EKVZ: Dies betonte vor einem Jahr an den regionalen Konferenzen auch Prof. Ralph Kunz. Er rief dazu auf, für jede Minute KGPlus zwei Minuten Gebet einzusetzen. Zugleich findet sich in den Unterlagen des Kirchenrats der Zeitplan bis 2018, mit Hunderten von kleinen Schritten. Warum sagt man den Kirchenpflegen nicht, dass sie mehr Zeit haben, wenn sie sie brauchen?

MP: Was würde sich in dem Prozess bewegen, wenn es diese Rahmenbedingungen nicht gäbe? Im letzten Jahr habe ich mit 120 Kirchgemeinden Kontakt gehabt. Seien wir ehrlich: Wenn ich ohne diese Rahmenbedingungen käme, gäbe es fast überall Schmunzeln und Gähnen. Seit der Disputation 1984 wurde kein Prozess in Gang gesetzt. Nun hat es der Kirchenrat getan. Um theologisch zu sprechen: Vor Ostern kommt die Passion. Vielleicht müssen wir durch eine schwere Zeit, um Neues zu erleben. Auch vor 500 Jahren ging es ums Geld. Aber man blieb nicht bei der Kritik am Ablass stehen, sondern ging theologisch ad fontes, zu den Quellen.

Ich sage bei jeder Begegnung in den Gemeinden: Es liegt in eurer Hand. Die Rahmenbedingungen – jedes Jahr 6000 Kirchenmitglieder weniger, während die Kantonsbevölkerung wächst – können wir nicht leugnen. Die Synode diskutierte meistens über Strukturen. Inhaltlich, theologisch, zur Gemeindeentwicklung, zur Relevanz für die Gesellschaft zu arbeiten: das ist uns als reformierter Kirche aufgegeben. Wir können es weder dem Kirchenrat noch der Pfarrschaft delegieren. Als Beauftragter für KGPlus versuche ich den Prozess zu begünstigen und zu erläutern und sicherzustellen, dass er weder kleingeredet noch geleugnet wird. Strukturell ist der Prozess bis 2018 realistisch, inhaltlich benötigt er weit mehr Zeit.

Die Stadtkirche Winterthur im Jubiläumssommer 750 Jahre Stadtrecht.

DvO: Daraus schliesse ich, dass wir in der Stadt Winterthur einen Kongress durchführen sollten, um die Situation mit unseren Mitgliedern zu diskutieren. An der Kirchenpflegetagung habe ich den Beitrag des Glarner Gastreferenten als Einziges positiv erlebt. Er sagte, dass man am Anfang zur Basis ging. Alle Leute wurden einbezogen und konnten sich beteiligen. Sie hatten acht Jahre Zeit. Unser Kirchenrat geht nicht so vor. Hätte er zu den Kirchenpflegen gesagt: Geht und besprecht euch mit den Mitgliedern, und ihnen einen Termin gesetzt …

MP: … Genau das haben wir gesagt. Mit den ImpulsDialogen haben wir eben diese Gespräche in den Gemeinden angepeilt. Dass es die meisten Behörden nicht geschafft haben, nehmen wir zur Kenntnis. Die Gespräche können aber noch geführt werden. Wir unterstützen die Kirchenpflegen weiterhin und senden einen Moderator. Oft ist die Angst da, etwas kaputtzumachen, was noch funktioniert. Darum geht es aber nicht. Es gilt, die Zukunft miteinander zu entwickeln, das zu überlegen und (auch theologisch, Geist-bewegt!) zu erspüren, was die kommende Aufgabe sein soll.

EKVZ: Sind die Kirchenpflegen nicht mehrheitlich überfordert, dieses Gespräch mit den Mitgliedern und Mitarbeitenden zu organisieren?

DvO: Ich glaube nicht.

MP: Ich weiss es nicht. Es scheint, dass sie erst eigene Fragen beantworten müssen. Ich nehme den Impuls gern auf: Vielleicht müssen wir zuerst eine zweite Welle von ImpulsDialogen anregen. Es könnte Sinn machen.

Wenn man mit dem Finger auf den Kirchenrat zeigt, betone ich: KGPlus ist der Prozess der gesamten Kirche. Es gibt nur das, was gemeinsam entwickelt wird. Als Beauftragter für KGPlus greife ich auf und verarbeite, was in Konferenzen und Tagungen gedacht und festgehalten wurde. Die Inhalte der sechs Pfarrkonferenzen werden von Gruppen bearbeitet; dann können sich die Pfarrkapitel mit ihnen befassen und dem Kirchenrat ihre Synthese (oder sechs oder zwölf Ansichten) mitteilen. Darauf werden weitere Kreise einbezogen, um Modelle und Handreichungen zu entwickeln.

DvO: Dass eine Pfarrkonferenz zu Seelsorge stattfand, finde ich gut. Sie ist unsere Kernaufgabe. Im Zusammenhang mit KGPlus, ist Seelsorge ein wichtiger Punkt. Wenn Pfarrstellen gestrichen und zusammengelegt werden, muss der Pfarrer zwischen den Gemeinden hin- und hereilen wie der katholische Priester. Dann ist der Seelsorger nicht mehr am Ort. Das ist ein grosser Verlust, weil Nähe verloren geht. Pfarrerinnen und Pfarrer haben deshalb in den Gemeinden Freiwillige in Seelsorge auszubilden. Sozialdiakone und andere Begabte müssen Zugang zu anerkannten Weiterbildungen wie Clinical Pastoral Training (CPT) erhalten.

MP: Ja, Nicht-Theologen sind zu befähigen. Die letzte Pfarrkonferenz befasste sich mit Freiwilligen. Wir gehen da in eine neue Phase hinein. Doch: Was heisst Nähe zu den Menschen? Sie entsteht durch Beziehungen! Alles andere ist nur heisse Luft. Ein dichtes Netz von Pfarrpersonen garantiert Nähe nicht.

Ich habe in der Diaspora in Einsiedeln das Vikariat gemacht. Um die Kinder für den Religionsunterricht zu sammeln, fuhr ich drei Viertelstunden. Aufwändige Nähe. In Opfikon sind noch 12 Prozent der Bevölkerung reformiert. Sie leben nicht im selben Quartier. Wir sind Diaspora! Dieser Veränderung müssen wir uns stellen. Wie gelingt es uns, seelsorgerliche Nähe zu schaffen? Sie ist nicht eine Frage der Zuweisung und der Grösse der Kirchgemeinden, auch wenn dies behauptet wird. Auch in biblischen Zeiten lebten die Christen zerstreut – Diaspora, nichts anderes.

EKVZ: Das Pfarrkapitel Hinwil hat theologisch Stellung genommen. In seinem Papier sagt es, dass die Kirche das Bewusstsein für ihren Auftrag verloren hat und ihr eine „Besinnung auf Ursprung, Mitte und Sendung“ Not tut. Wie reagieren Sie darauf?

„Es gehört zum Grundauftrag der Kirche, so aufzutreten, dass die Leute angesteckt werden“: Dominique von Orelli, nach der Pensionierung vom Pfarramt Kirchenpfleger in Winterthur.

DvO: Von Gemeinde zu Gemeinde gibt es grosse Unterschiede. Wenn jetzt im Prozess KGPlus der Eindruck im Vordergrund steht, man müsse neue Strukturen schaffen, ist zumindest die Frage zu stellen, was der zentrale Auftrag ist. Wenn der Prozess davon ausgeht, scheint er mir verheissungsvoll. Deinen Aussagen, Martin, kann entnommen werden, dass es schon auch in die Richtung geht. Wäre KGPlus nur der Angst angesichts schwindender Ressourcen geschuldet, wäre der Prozess weniger verheissungsvoll. Dass die Kirche das Bewusstsein für ihren Auftrag verloren hat, das ist wohl an vielen Orten Tatsache. Darum ist sie aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden; manchmal entsteht der Eindruck, sie habe keine Rolle in der Gesellschaft und christliche Aspekte des Zusammenlebens spielten keine Rolle mehr. Das gibt mir zu denken.

Im Dorf wird am Sonntagmorgen eine Veranstaltung angesetzt. Weist man die Träger auf die Konkurrenz zum Gottesdienst hin, geben sie zu, dass sie gar nicht an die Kirche gedacht haben. Da stimmt etwas nicht mehr. Da ist die Kirche keine Grösse mehr, die man ernst nimmt. Wenn sie von ihrem Auftrag durchtränkt wäre, wenn er ihren Mitgliedern bewusst wäre, würde sie ihn auch ausüben und Kreise ziehen. Das feu sacré für den Auftrag hat der Kirche allerdings schon früher gefehlt. Nun geht es um das Feuer für eine neue Reform. Diesen geistlichen Prozess wünsche ich uns.

MP: Die Kirche soll sich nicht schlecht machen. Wenn das Pfarrkapitel Hinwil dies formuliert, gehe ich davon aus, dass die Pfarrerinnen und Pfarrer dies in ihrer eigenen Arbeit feststellen. Ich glaube, der Auftrag ist komplexer geworden. Worum geht es? Die Botschaft des Evangeliums zu verkündigen und danach zu leben – das nun aber in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Wir haben nun Kirche zu reformieren sowohl vom evangelischen Auftrag her als auch strukturell, da es der Kirche als Institution schlechter geht. Das eine darf nicht gegen das andere ausgespielt werden. Wie die Entwicklungsabteilung eines Betriebs haben wir das, was wir tun, neu zu denken.

EKVZ: Die Pfarrer unserer Kirche sind frei in der Auslegung der Schrift. Trägt die Vielfalt der Aussagen zur Unklarheit bei?

MP: Dies sehe ich nicht als Problem. Schon die Gemeinden des Neuen Testamentes haben sich stark unterschieden. Und es gab Streit (1. Korinther 1, Apostelgeschichte 15). Immer rang man um einen gemeinsamen Nenner. In meinen Augen kommt es auf die Verbindlichkeit an. Wenn die Pfarrerin oder der Pfarrer oder die Gemeinde sich selbst genügt, laufen wir in eine heikle Phase hinein. Wo Nachbarschaft nicht Wertschätzung, sondern Geringschätzung bedeutet, wird es heikel – und dort läuft es in meinen Augen auch dem Evangelium zuwider.

Wir haben uns zu verstehen als Leib Christi, dem die Gemeinden gerade in ihrer Vielfalt dienen. An dem einen Leib haben die verschiedensten Organe ihren Auftrag. Genügt eine Gemeinde sich selbst oder kennt sie sich als Teil des Grossen, zu dem sie einen Beitrag gibt? Dann mag es die Pluralität nicht nur leiden, dann ist sie ein wichtiger Reichtum.

EKVZ: Die Selbstgenügsamkeit – auch eine Folge der bisher üppigen Mittel?

DvO: Man hatte Reformen nicht nötig, weil genug Geld da war.

MP: In der Diaspora braucht man einander und stützt einander. Im Kanton Zug ging ich sogar zum reformierten Coiffeur, weil er, von Katholiken gemieden, Kundschaft brauchte. Wir brauchen einander, um in der Gesellschaft glaubwürdig zu sein. Und was du erwähnt hast, beobachte ich auch: Kirche ist heute in der Gesellschaft weniger wichtig. Also müssen wir uns erklären. Was wir zum Miteinander beitragen können, muss einsichtig gemacht werden.

DvO: Übermorgen habe ich einen Abend mit Eltern von Zweitklässlern. Ich werde sie bitten, für den Unti ihrer Kinder ein inneres Engagement zu entwickeln. Denn sonst geht es nicht. Das innere Engagement können wir nicht machen. Es gehört zum Grundauftrag der Kirche, so aufzutreten, dass die Leute angesteckt werden und sagen: Wow, da will ich mich engagieren!

MP: In der Abstimmung am 18. Mai haben viele dafür gestimmt, dass die Kirche weiterhin Steuern der Unternehmen erhält. Aber selbst wollen sie mit Kirche nichts zu tun haben. Im KGPlus-Prozess muss unter Gemeinden auch darüber gesprochen werden, wie Menschen in weiteren Lebenswelten erreicht werden, auch jüngere, aktive Senioren.
Äusserlich sind wir wirklich unter Zeitdruck. Das wollte der Kirchenrat deutlich machen. Und der Zeitdruck nimmt nicht ab. Der mangelnde Nachwuchs in Kirchenmusik, Sozialdiakonie und Pfarrschaft trägt dazu bei. Etwa 40 Sitze in Kirchenpflegen sind derzeit nicht besetzt. Wenn uns die Finanzen noch Gestaltungsmöglichkeiten geben, ist der Zeitdruck deswegen nicht kleiner.

EKVZ: Was ist Kirche, wenn sie nicht mehr Volkskirche ist?

MP: Das ist miteinander zu entwickeln. Wie kann man die Kirche in 20 Jahren in den Blick nehmen, wenn die ganze Gesellschaft sich dermassen verändert? Volkskirche ist ein heikler Begriff aus dem 19. Jahrhundert. Wie gross oder klein die Kirche in der Gesellschaft sein wird – das ist offen. Was ist für die Gesellschaft wichtig? Der Kirchenrat fragt in die Konferenzen hinein, was die Kirche von morgen ausmachen soll. Wir entwickeln das miteinander. Wenn der Kirchenrat die Reformierten des Kantons dazu hinführt und ermächtigt, gebührt ihm dafür Respekt.

DvO: Wenn sie nicht mehr Volkskirche ist: das sehen wir heute in Neuenburg. Ich staune, dass die Neuenburger Kirche noch lebt, mit den geringen Mitteln. Sie zieht sich zurück und es hängt dann viel daran, wie überzeugt ihre Mitglieder als Christen sind. Wollen sie als Christen leben und Kirche sein?

MP: Und sind sie in der Gesellschaft glaubwürdig? Darauf wird es wohl ankommen. In Ostdeutschland finden sich blühende Gemeinden und verschupfte Grüppchen. Es hängt von den Menschen ab, nicht von den Strukturen.

EKVZ: Und auch von der Geistlichkeit: dass die Pfarrerinnen und Pfarrer einander stützen.

MP: Ja. Auf die Spiritualität und das Glaubensleben der Pfarrschaft kommt es an. Die Bündner Synode ist legendär. Ich lud im Frühjahr an einer Pfarrkonferenz die Anwesenden ein, eine Kultur des Austausches zu entwickeln. Es braucht für die Pfarrschaft neue Werte. Man kann sie nicht verordnen. Ich hoffe, dass sich die Zürcher Pfarrschaft für diese Teambildung im grossen Stil gewinnen lässt. Auch für die Diakonenschaft gilt es Gefässe zu bilden, in denen sie sich bei aller Verschiedenheit der Ausbildungen und Arbeitsfelder erkennt.

Um auf die Frage zurückzukommen: In der Reformationszeit lagen über vier Jahrzehnte zwischen Zwinglis Anfang im Grossmünster und dem Zweiten Helvetischen Bekenntnis, an das sich die folgenden Generationen halten konnten. Vielleicht brauchen wir die Spanne heute auch. Wir würden es uns zu leicht machen, wenn wir meinten, wir könnten den Reformprozess in zwei, drei Jahren hinter uns bringen. Wir dürfen die Arbeit nicht delegieren und sollten nicht behaupten, dass wir die Kirche von morgen schon kennen. Bestimmt gilt es den Leib Christi zu stärken. Christenmenschen gehören zusammen, in Freiwilligkeit, nicht in einer Machtstruktur. Das, glaube ich, hat Zukunft.


Mehr zum Thema:
Website der Zürcher Landeskirche zu KirchGemeindePlus
KirchGemeindePlus: Strukturreform und geistliche Erneuerung?
EKVZ-Gespräch mit Kirchenratspräsident Pfr. Michel Müller

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