Im Zürcher Schauspielhaus lebt Nathan eine Weisheit, die Schicksalsschlägen nicht erliegt, und wirbt für sie. Doch fällt Asche auf Lessings Vision des Menschseins jenseits religiöser Zugehörigkeit.

Sie haben im Jerusalem der Kreuzzüge ein zweites Leben geschenkt bekommen: Recha, die Pflegetochter Nathans, ist noch versengt vom Feuer, aus dem sie der Tempelritter gerettet hat. Er selbst, im Krieg gefangen, wurde nicht hingerichtet, sondern vom Sultan Saladin begnadigt. Der Zuneigung der beiden steht die Differenz der Religionen im Weg – bis sie sich am Ende durch Klärung ihrer Herkunft auflöst.

Weise und erfolgreich

Den ideellen Weg dahin weist Nathan, der Jude. Die von Lessing eingestreuten antisemitischen Vorurteile und Hetzparolen entkräftet er lebensklug und mit feinsinniger Toleranz. Robert Hunger-Bühler spielt einen vom Verlust seiner Familie gezeichneten Mann, der in Wirren barmherzig, umsichtig und erfolgreich agiert. Er steht hoch über den in ihren religiösen und Machtvorstellungen gefangenen Zeitgenossen, dem Sultan (der sich immerhin von der Ringparabel verzaubern lässt) und dem Kriegstreiber-Patriarchen.

Nathan – ein Weiser auch für unsere Tage. Wir bejahen, dass Menschen jeglicher Religion über alles Trennende hinweg einander als Menschen viel zu geben haben. (Und buchstabieren es noch.) Doch im Schauspielhaus ist der Raum, in dem sich das Drama um Identität und Religion abspielt, schwarz und schmucklos. Über viele Szenen regnet Asche von der Decke, unaufhaltsam. An den Anfang gesetzt hat die Regisseurin Daniela Löffner den Ruf des Muezzin und ein islamisches Gebet ganz Verhüllter. Augenfällig wird damit ein Nein zu Toleranz, das im islamischen Raum – trotz dem Aufbegehren vieler – wahrzunehmen ist.

Fällt Asche auch auf die Perspektive, die sich mit den Aufklärern auftat: das wahre, gemeinsame Menschsein liege jenseits religiöser Zugehörigkeit und könne und solle sie abstreifen? Zu Lessings Zeit waren Muslime fern: Zur Aufführung kam sein Drama hundert Jahre nach dem Ende der Belagerung Wiens durch die Türken. Die Aufklärung führte in Westeuropa zur Säkularisierung; ihre Postulate trugen auch bei zu kolonialem Auftrumpfen, zu totalitären Ideologien (der Patriarch fordert: «der Jude wird verbrannt»!) und verbreitetem Unglauben.

Zu wenig Religion

Neun Generationen nach Voltaire und Lessing liegt das Problem nicht mehr in zu viel, in bornierter und rechthaberischer christlicher Religiosität. Zu denken gibt an der Limmat vielmehr ein areligiöses Klima – Mangel an Ehrfurcht, zunehmendes Unverständnis für jedweden entschiedenen Glauben. Der Zürcher Rabbiner Marcel Ebel konstatiert in einem Gespräch zur Aufführung: «Wenn ich an nichts glaube und mein Gegenüber an nichts glaubt, dann haben wir schon wieder etwas gemeinsam und zwar das, was uns eigentlich verloren gegangen ist irgendwo auf dem Weg der Aufklärung.»

Westeuropas Eliten lassen sich im Stolz auf seine Errungenschaften, die der Aufklärung gutgeschrieben werden, zu Illusionen und Selbstüberschätzung verleiten – als wäre der Kontinent nicht von Ideologien, Weltkriegen und Hedonismus versehrt. Keine guten Voraussetzungen, um mit den Wirrköpfen aus der durch die Moderne aufgescheuchten islamischen Welt umzugehen. Und um mit denen, die ihr den Rücken kehren, die ersten Fragen anzugehen. Die Ringparabel genügt nicht.

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