Der ETH-Politologe Prof. Frank Schimmelfennig skizzierte die europäische Einigung von ihren wirtschaftlichen Anfängen her. Die westliche Wertegemeinschaft sei nicht positiv durch eine Vorstellung vom anzustrebenden Gemeinwohl bestimmt, bemerkte er, sondern negativ: Beschränkung von Herrschaft ermögliche Freiheit. Der Politologe verwies auf Immanuel Kants visionäre Schrift «Vom ewigen Frieden». Der Königsberger Philosoph habe aber keineswegs einen europäischen Superstaat im Sinn gehabt, sondern an freie Staaten gedacht, die eng zusammenarbeiten und miteinander eine Kultur der «Hospitalität» entwickeln.
Die aktuelle «populistische Herausforderung» ist laut Schimmelfennig im Kern eine Verabsolutierung des Volkswillens – mithin Ablehnung von Gewaltenteilung und Minderheitenschutz, ja sämtlicher von Kant vorgestellter Werte. Die Proteststimmung werde durch zunehmende Ungleichheit in den Ländern der EU angefacht.
Mehr als Prozeduren und Freiheiten
Dass sich die EU-Staaten über Prozeduren, Freiheiten und Menschenrechtsstandards verständigten, kann als «basale Wertegemeinschaft» angesehen werden. Laut Prof. Marianne Heimbach-Steins funktioniert diese aber nur zukunftsträchtig, wenn sich Menschen, überzeugt von einer Idee des Zusammenlebens, dafür einsetzen und Zumutungen in Kauf nehmen (etwa in der Aufnahme von afrikanischen Asylanten). Am Projekt Wertegemeinschaft sei festzuhalten – Krisen zeigten aber, dass «wir es offenbar nicht in der Tasche haben».
Die katholische Sozialwissenschaftlerin von der Uni Münster zitierte Zygmunt Baumans Frage: Wie kann Integration gelingen «ohne vorausgehende Separation» – ohne dass das Eigene, die Heimat, in Abgrenzung vom Anderem bestimmt wird? Um vorwärts zu blicken, nahm sie Passagen der Rede auf, die Papst Franziskus anlässlich der Verleihung des Karlspreises 2015 hielt. Angesichts des Verlusts der «grossen Ideale» vermittelte er die Vision eines neuen Humanismus, welcher das «heruntergekommene Europa» neu dynamisieren könnte.
Kirchen besonders gefordert
Für Marianne Heimbach-Steins ist nun eine «starke kulturelle Integration» vonnöten. Die Europäer hätten Verantwortung füreinander zu übernehmen als fundamental Gleiche – auch gegenüber den künftigen Generationen. Die Kirchen hätten sich für den Dialog und die Ermöglichung von Teilhabe einzubringen.
Wenn Schimmelfennig betonte, die Glaubwürdigkeit der EU werde zu Recht an der Fähigkeit ihrer Politiker gemessen, Probleme zu lösen, nannte Heimbach-Steins den grössten Skandal: dass Dutzende Millionen junge Europäer keine rechte Arbeit haben. Jagoda Marinic, deutsche Autorin mit kroatischen Wurzeln, setzte in ihrem Vortrag einen drauf, indem sie die Kluft des Mindestlohns zwischen West- und Osteuropa anprangerte.
Gibt es noch gemeinsame Nenner?
Ist in einer Gemeinschaft mit immer mehr Diversität und pluraleren Einheiten Konsens über die Werte noch zu erreichen? Marinic spitzte ihre Frage im abschliessenden, von Jeannette Behringer geleiteten Podium zu: «Wie haben wir noch die Möglichkeit, gemeinsame Nenner zu kreieren?» Die Schriftstellerin wünschte, dass «wir mit viel mehr Enthusiasmus werben für das, was unser Wert ist», im Glauben an den demokratischen Aushandlungsprozess.
Frank Schimmelfennig brachte das Problem von EU-Europa auf den Punkt: «Je grossflächiger und diverser eine Gemeinschaft wird, desto dünner sind die Werte, auf die man sich in dieser Gemeinschaft noch einigen kann.» Das europäische Projekt brauche Bescheidenheit. Eloquent machte Marianne Heimbach-Steins Mut, christliche Werte in die Prozesse einzubringen.